Da ich euch gerne jeden Monat bis zum Erscheinungstermin von Flammen und Seide einen Textschnipsel zu lesen geben möchte, ist es heute wieder soweit. Wenn ihr die beiden vorherigen Schnipsel schon gelesen habt, werdet ihr feststellen, dass die Geschichte auf zwei Zeitebenen spielt. 1673 und 1668. Heute bekommt ihr wieder einen kleinen Einblick in die Vergangenheit des männlichen Protagonisten Lucas Cuchenheim.
Ich hoffe der Schnipsel gefällt euch und macht euch noch ein bisschen neugieriger auf das Buch. Wenn ihr mögt, könnt ihr mir gern in den Kommentaren eure Leseeindrücke mitteilen.
Aus dem 6. Kapitel
Rheinbach, 19. April 1668
»Bleibt genau hier stehen«, befahl der Büttel und schubste Lucas vor den langen Eichentisch, an dem heute sieben der neun Rheinbacher Schöffen Platz genommen hatten, um Gericht zu halten. Lucas kannte sie alle, seit er denken konnte, und umgekehrt natürlich auch. Ob ihm dieser Umstand jedoch zum Vorteil gereichen würde, bezweifelte er, als er die zum Teil grimmigen, zum Teil verkniffenen Mienen der Männer sah. Bei einer Anklage wie der, die gegen ihn erhoben worden war, verbat sich jedwede Gutmütigkeit seitens der Richtenden.
Im rückwärtigen Teil des Schöffensaals, der sich im Obergeschoss des Rheinbacher Bürgerhauses befand, standen Stühle für Publikum bereit, und heute hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden. Es wurde geraunt und getuschelt und immer wieder wurden wüste Schimpfworte gerufen, doch da die Verhandlung noch nicht begonnen hatte, fühlten sich die Gerichtsdiener nicht bemüßigt, einzugreifen. Zu seiner Erleichterung erkannte er in der Menge neben seiner Mutter auch seinen Onkel Averdunk sowie Gerlach Thynen, Peter von Werdt und dessen Vater Erasmus.
»Beginnen wir.« Heinrich Diefenthal, der heute als Schöffenmeister fungierte, weil sich Hermann Overkamp, wie beinahe immer, auf einer Handelsreise befand, erhob sich von seinem Stuhl. Er war ein hagerer Mann um die sechzig mit grauem, schütterem Haar, das er unter einer graubraunen Perücke zu verstecken pflegte. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wurde es im Zuschauerraum mucksmäuschenstill. »Lucas Cuchenheim, Sohn von Johann und Hedwig Cuchenheim, geboren am sechsundzwanzigsten Januar anno 1645 hierselbst in Rheinbach, Ihr wurdet vom Schustermeister Henns Klötzgen, wohnhaft ebenfalls hier in Rheinbach, beschuldigt, seine Tochter Veronica auf unsittliche Weise belästigt, gegen ihren Willen verführt und entehrt zu haben. Was habt Ihr dazu zu sagen?« Abwartend starrte Diefenthal ihn an.
»Dass es eine Lüge ist.« Lucas hatte einen halben Tag, eine Nacht und dem gesamten Morgen Zeit gehabt, sich den Kopf zu zermartern, warum Veronica ihn einer solchen Untat bezichtigte. Aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Lucas‘ Vater und nach dessen Tod er selbst hatten Klötzgen regelmäßig mit Leder für dessen Schusterwerkstatt versorgt, daher kannte Lucas die Familie recht gut. Natürlich hatte er auch hin und wieder mit Veronica geschäkert, aber nichts, was er getan hatte, wäre je ein Grund gewesen, ihn bei Gericht anzuzeigen. Er hatte sich nie länger mit ihr unterhalten – geschweige denn mehr getan –, weil sie mit ihrem hageren, eher blassen Gesicht weder besonders ansehnlich war, noch sich durch besonderen Witz hervortun konnte. Selbst wenn sie hübscher oder von liebenswerterer Natur gewesen wäre, hätte er sich ganz sicher nicht auf sie eingelassen, denn schon sein Vater hatte ihm eingebläut, dass die Töchter von Kunden tabu waren.
Lucas hatte sich zwar nur wenige Ratschläge, die er von seinem seligen Vater erhalten hatte, zu Herzen genommen, doch dieser leuchtete ihm von Anfang an ein. Aber ganz egal, was er mit einem Mädchen tat, es war ganz sicher nie gegen dessen Willen. Weder hatte er das nötig, noch war es mit seinem Charakter und seinem ihm eigenen Ehrenkodex vereinbar.
Dies alles versuchte er nun den schweigenden, düster dreinschauenden Schöffen begreiflich zu machen, doch er erntete nicht einmal ein anerkennendes Nicken oder überhaupt irgendeine Reaktion. Es wirkte fast, als hatte das Schöffenkollegium sein Urteil bereits gefällt, was ihm, je länger er sprach, zunehmend Sorge bereitete.
»Ihr leugnet die Tat also«, stellte Diefenthal nüchtern fest, als Lucas schließlich verstummte. Er hatte sich inzwischen wieder hingesetzt. »Und das, obwohl es Zeugen gibt, die Euch eindeutig erkannt haben.«
»Wer sind diese Zeugen und was genau behaupten sie, gesehen zu haben?« Lucas bemühte sich um einen ruhigen Ton, der allerdings ein wenig bissig ausfiel, sodass sich die Schöffen mit bedeutsamen Blicken ansahen.
Diefenthal ging nicht auf die Frage ein. »Wo habt Ihr Euch am frühen Abend bis etwa Mitternacht des dreiundzwanzigsten Februars aufgehalten?«
Lucas runzelte die Stirn. »Das ist zwei Monate her. Ich weiß es nicht mehr.«
»Wisst ihr es nicht oder wollt Ihr es nur nicht zugeben?«, blaffte einer der anderen Schöffen, Edmund Fröhlich, ihn an.
»Ich weiß es nicht mehr.« Lucas ballte die Fäuste, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Was war das für ein Wochentag?«
»Ein Donnerstag.«
In Lucas‘ Kopf rotierten die Gedanken. »Dann war ich vermutlich im Goldenen Krug.«
»Ja, bis kurz nach dem Abendläuten, das haben wir bereits überprüft. Wohin seid Ihr danach gegangen?«
Lucas schluckte unbehaglich. Ein Donnerstag im Februar … Er bekam langsam eine Ahnung, wo er an jenem Abend gewesen war – und mit wem. »Nach Hause, nehme ich an. Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. Ich führe doch nicht Buch über meinen Tagesablauf.«
»Kann Eure Anwesenheit zu Hause jemand bestätigen? Vorzugsweise eine andere Person als Eure Frau Mutter?« Diefenthal klang, als wüsste er die Antwort darauf bereits.
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Lucas fühlte sich immer unwohler, jetzt, da er sich an jenen Tag erinnerte. Er hätte sich am liebsten zu seiner Mutter und dem Onkel umgedreht, aber er war sich nicht sicher, was er in ihren Gesichtern sehen würde, also ließ er es. »Aber ich war ganz gewiss nicht unterwegs, um Veronica zu verführen oder was auch immer sie mir sonst vorwirft. Das habe ich nicht getan.«
»Sie sagt aus, dass Ihr sie in die alte Ziegelbrennerei hinter dem westlich von Rheinbach gelegenen Wald gelockt habt.«
Eisige Kälte ergriff Lucas, und er hatte Mühe, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. »Das habe ich nicht getan«, wiederholte er stoisch.
Die alte Ziegelbrennerei war nach einem Brand vor mindestens dreißig Jahren stillgelegt worden. Seither hatte sich der Ort zu einem beliebten Treffpunkt für verliebte Pärchen entwickelt. Genutzt wurde er vor allem in den Sommermonaten, wenn es warm genug war, um sich beim Stelldichein mit der Herzallerliebsten nicht zu erkälten. Wer sich im Winter dort verabredete, musste einiges an Aufwand betreiben, um einen der alten Öfen einzuheizen und eine passabel behagliche Umgebung zu schaffen. Lucas wusste das nur zu genau, und dieses Wissen würde ihn jetzt vermutlich um Hals und Kragen bringen.
»In der Ziegelbrennerei«, fuhr Diefenthal fort, »habt Ihr, so sagt die Geschädigte weiter aus, sie zu betören versucht, und als sie sich nicht bereit erklärte, Euch zu Willen zu sein, habt Ihr Euch mit Gewalt genommen, wonach Euch gelüstete.«
Im Publikum wurde empörtes Raunen laut, doch die Gerichtsdiener sorgten mit scharfem Rügen gleich wieder für Ruhe.
Lucas schüttelte vehement den Kopf. »Das ist nicht wahr. Nichts davon ist geschehen, das schwöre ich.«
»Ihr schwört?« Herbert Horst, der ganz rechts außen saß, beugte sich mit erbosten Gesichtsausdruck halb über den Tisch. »Wie kommt es dann, dass wir gleich zwei Zeugen haben, die Euch unabhängig voneinander an jenem Abend bei der alten Ziegelbrennerei gesehen haben?«
»Wer?« Lucas hob die Hände, doch da ihm wieder Schellen angelegt worden waren, konnte er nicht gestikulieren. Die Eisenkette klirrte leise. »Wer sind diese Zeugen?« Er war sich vollkommen sicher gewesen, dass niemand ihn an jenem Abend beobachtet hatte.
»Die Magd der Familie Velde, Else, hat gesehen, wie Ihr die Ziegelbrennerei am frühen Abend betreten habt. Sie war zufällig in der Nähe unterwegs, um für ihre Herrschaften eine Besorgung zu machen, und hat den Weg durch den Wald als Abkürzung benutzt.« Diefenthal verschränkte die Arme vor sich auf dem Tisch. »Und Paul Wicke, der, wie Ihr wohl wissen dürftet, mit Krämerwaren durch die Lande zieht, rastete just an jenem Abend nicht weit vom Waldrand und bezeugt, Euch beobachtet zu haben, wie Ihr Euch etwa um die Mitternachtsstunde heimlich aus der Ziegelei entfernt habt und eiligen Schrittes in Richtung Stadt verschwunden seid. Nur wenig später hat eine Weibsperson, die von Statur und Haartracht mit Veronica Klötzgen übereinstimmt, ebenfalls das Gebäude verlassen.« Der Schöffenmeister fixierte Lucas streng. »Wollt Ihr nun noch immer behaupten, Ihr wäret nicht dort gewesen? Beide Zeugen beschwören beim Heiligen Kreuze, dass Sie Euch erkannt haben.«
Abwechselnd heiße und kalte Schauder rannen Lucas das Rückgrat hinab. Er saß in der Klemme und zwar so sehr, dass ihm nichts einfallen wollte, was ihm auch nur ansatzweise wieder heraushelfen könnte.
»Nun?« Diefenthal erhob sich wieder und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. »Hat es Euch die Sprache verschlagen?«
Fieberhaft suchte Lucas nach den rechten Worten. »Ich habe nichts von dem getan, was Veronica Klötzgen oder ihr Vater mir vorwerfen.«
»Dass ist keine Antwort auf meine Frage.« Diefenthal runzelte ungehalten die Stirn.
»Eine andere Antwort kann ich Euch nicht geben, Herr Diefenthal.«
»Das gibt es doch wohl nicht, Junge!« Edmund Fröhlich fuhr auf. »Nun redet schon, wart Ihr an besagtem Donnerstagabend in der alten Ziegelbrennerei oder nicht?«
Lucas schwieg.
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Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit Mann und Hund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet seit 2003 als freie Autorin. Ihre historischen Romane erscheinen im Rowohlt Taschenbuch Verlag, ihre Weihnachtsromane bei Rütten & Loening sowie MIRA Taschenbuch.
Unter dem Pseudonym Mila Roth veröffentlicht die Autorin verlagsunabhängig verschiedene erfolgreiche Buchserien.
Petra Schier ist Mitglied in folgenden Autorenvereinigungen: DELIA, Syndikat, Autorenforum Montségur
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