Die Zeit zerrinnt mir zwischen den Fingern. Zumindest kommt es mir so vor. Da ich neben meiner Arbeit am aktuellen Manuskript auch hier im Blog und auf der Webseite umfangreiche Wartungsarbeiten vornehme, komme ich gerade mit meinen Blogartikeln arg ins Hintertreffen. Natürlich habe ich euch nicht gänzlich vergessen, deshalb gibt es heute endlich mal wieder einen Textschnipsel aus Das Kreuz des Pilgers, allerdings immer noch im Rohtext, also nicht lektoriert, weil meine Lektorin sich gerade erst an die Arbeit gemacht hat. Ich hoffe, ihr genießt den kleinen Einblick in den neuen historischen Roman trotzdem. Dieser Schnipsel schließt sich übrigens nahtlos an den letzten an, den ihr gerne HIER noch einmal nachlesen könnt.

Aus dem 2. Kapitel

Seufzend legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen empor. Ihre Mutter, die eine sehr gebildete Frau war, hatte ihr einst die verschiedenen Sternbilder und deren Bedeutung erklärt und dass es Männer gab, die aus dem Lauf der Gestirne die Zukunft vorauszusagen in der Lage waren. Manchmal wünschte Reinhild sich, einen solchen Mann einmal kennenzulernen, damit er ihr vielleicht einen Hinweis darauf geben konnte, wie ihr eigenes Geschick sich entwickeln würde. Andererseits fürchtete sie sich auch davor. Frau Luzia, die engste Freundin ihrer Mutter, hatte hin und wieder im Traum Gesichte, die die Zukunft voraussagten. Nichts Weltbewegendes, nur hin und wieder eine Begegnung oder ein Missgeschick, das sich trotz der Vorhersage meist nicht verhindern ließ. Reinhild fand es dennoch beunruhigend. Um wie viel beängstigender wäre es wohl, einen echten Blick in die Zukunft tun zu dürfen? Verführerisch und erschreckend zugleich mutete der Gedanke an, doch sie konnte sich nicht entscheiden, welche der beiden Empfindungen in ihr überwogen.

Als es im nahegelegenen Gebüsch raschelte, zuckte Reinhild zusammen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie lauschte angestrengt, musste dann aber fast über sich lachen, als ein helles Quietschen, gefolgt vom Schrei einer Eule verriet, dass ein nächtlicher, geflügelter Jäger seine Beute entdeckt hatte – und umgekehrt. Noch mehr Geraschel und Gefiepe folgte, als die Eule auf das fliehende Nagetier niederstieß und es erlegte.

Reinhild zog das Wolltuch etwas fester um die Schultern und entspannte sich wieder. Die Füße zog sie jedoch aus dem Wasser heraus, weil es ihr allmählich zu kalt wurde. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie zurück ins Lager ging und doch noch einmal versuchte, Schlaf zu finden. Am Morgen wollten sie ganz früh aufbrechen und der Weg bis Basel würde anstrengend werden.

Sie war das Reisen allmählich leid. Die pure Neugier hatte sie dazu getrieben, Gottfried auf seiner Handelsreise bis nach Zürich zu begleiten. So weit von zu Hause weg war sie noch nie gewesen und die meiste Zeit hatte sie die neuen Eindrücke sehr genossen, auch wenn so mancher Tag beschwerlich gewesen war. Normalerweise wurden so ziemlich alle Waren, die die Koblenzer Kaufleute vertrieben, über Rhein und Mosel angeliefert, manche auch mit Karawanen. Die großen Wasserstraßen hatten der Stadt zu nicht unbeträchtlichem Wohlstand verholfen. Doch ein- bis zweimal im Jahr standen trotzdem auch Besuche bei den wichtigsten Handelspartnern außerhalb an, um neue Geschäfte und Konditionen zu besprechen und zu verhandeln. Gottfried war nun schon seit einigen Jahren die rechte Hand von Martin Wied und dessen Gemahlin, die sich höchst erfolgreich im Gewürz- und Weinhandel hervortaten. Bis vor drei Jahren war Martin selbst regelmäßig zu seinen Geschäftspartnern gereist, manchmal auch mit seiner Gemahlin zusammen. Doch inzwischen widmete er sich mehr und mehr seinen städtischen Ämtern und überließ Gottfried die Besuche von Kundschaft außerhalb. Bald schon, so nahm Reinhild an, würden Martins Söhne das Kontor übernehmen, was bedeutete, dass Gottfried, wenn er nicht wieder zum Handelsgehilfen degradiert werden wollte, sich etwas Eigenes aufbauen musste. Selbstverständlich würde sie ihn dabei unterstützen, so gut sie konnte. Sie brauchte eine Beschäftigung, denn ihr Sohn Hannes war nun schon bald fünf Jahre alt. In wenigen Jahren würde er entweder als Page in einen befreundeten Adelshaushalt aufgenommen oder bei Martin oder einem anderen befreundeten Kaufmann in die Lehre geschickt werden. Selbst wenn er dann nur wenige Schritte von ihnen entfernt wohnen würde, hätte sie dann niemanden mehr, um den es sich zu kümmern galt, denn weitere Kinder hatten sie nicht und das würde sich wohl auch nicht mehr ändern. Vielleicht konnte sie also ihre Fertigkeiten in dem neuen Kontor einbringen.

Ihre Gedanken schweiften zu Palmiro, der endlich nach Koblenz zurückkehrte und vorhatte, diesmal auf Dauer zu bleiben. Mit Gottfried hatte er sogar schon darüber gesprochen, möglicherweise gemeinsam ein Kontor zu eröffnen. Doch so wunderbar diese Nachricht auch sein mochte – sie freute sich wirklich von Herzen –, würde ihr Leben dadurch fortan noch viel schwieriger werden, als es ohnehin bereits gewesen war. Täglich würde sie um Kraft beten müssen und um den Mut, die Geheimnisse, die sie zu hüten hatte, weiterhin tapfer zu bewahren.

Entschlossen wandte sich Reinhild wieder dem Lager zu und wollte gerade losgehen, als irgendwo in der Nähe ein Pferd wieherte, dann ein zweites. Erschrocken hielt sie inne. Im nächsten Moment brach ein wildes Gebrüll und Geschrei im Lager aus. Männer mit Fackeln drangen aus dem Hinterhalt ein, offenbar Räuber, die auf die teuren Handelswaren aus waren, die die Karawane mit sich führte. Entsetzt starrte Reinhild für einen langen Moment auf das wilde Durcheinander, das sich entspann. Die Wachleute hatten ihre Waffen gezogen und verteidigten das Hab und Gut ihrer Dienstherren. Zwei Frauen kreischten, ein Hund kläffte wütend.

Hastig blickte Reinhild sich um. Sie musste sich irgendwo in Sicherheit bringen. Mit solchen Wegelagerern war nicht zu spaßen. Von vielen Gräueltaten hatte man ihr schon erzählt und sie stets gewarnt, auf der Hut zu sein … und sich nicht zu weit vom Lager zu entfernen! Schon gar nicht mitten in der Nacht und ganz allein. Sie hatte nicht einmal jemandem gesagt, wohin sie gehen wollte. Wozu auch? Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass in dieser stillen Nacht etwas Ungewöhnliches passieren könnte.

Mit wild pochendem Herzen suchte Reinhild nach einem Versteck, doch hier in der Ebene gab es außer ein paar niedrigen Sträuchern nichts, was ihr hätte Deckung bieten können. Fluche, Geschrei und das Klirren von Stahl auf Stahl verrieten, dass die Wachleute die Eindringlinge mit ihren Schwertern zurückzudrängen versuchten. Eine Vielzahl von Pechfackeln erhellte inzwischen das Lager und Reinhild musste mit Schrecken erkennen, dass die Räuber in der Überzahl zu sein schienen. Oder wirkte es nur so, weil sie sich so flink bewegten? Wieder wieherten die Pferde, diesmal lauter und im nächsten Moment galoppierten zwei von ihnen davon.

Reinhild duckte sich, als sie einen der Eindringlinge hinter den Pferden her laufen sah. Anscheinend hatte er die Tiere befreit, um sie zu stehlen. Hoffentlich entdeckte er sie nicht! So schnell sie konnte, huschte sie zu einem der Reisewagen, die, einem Burgwall ähnlich, um das Lager aufgestellt waren. Leider nur auf einer Seite, da nicht genügend Wagen vorhanden waren, um eine echte Wagenburg daraus zu stellen.

Wieder hörte sie Frauen kreischen. Es waren nur eine Handvoll außer ihr unter den Reisenden, davon zwei Jungfern von vierzehn und zwölf Jahren, die ihre Eltern auf einer Pilgerreise begleitet hatten. Schwer atmend und eiskalt vor Angst drückte Reinhild sich gegen das vordere Wagenrad und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Wohin sollte sie bloß gehen? Wo war Gottfried? Wo waren Palmiro und dessen Freund und Wegbegleiter Conlin? Sie konnte keinen von ihnen in dem wilden Gewusel ausmachen und kroch schließlich unter den Wagen. Das Gebrüll der Männer und das Gekläff des Hundes mischten sich zu einem merkwürdigen Dröhnen in ihren Ohren. Dazwischen immer wieder das Klirren der Schwertklingen.

»Bitte, lieber, guter, allmächtiger Gott, mach, dass das wieder aufhört«, betete sie halblaut und kniff die Augen zusammen, nur um sie im nächsten Moment wieder weit aufzureißen, als einer der Wachmänner rücklings gegen den Wagen stolperte und sein Schwert dabei verlor. Nur Augenblicke später wurde er vom Schwert seines Gegners durchbohrt und sackte in sich zusammen. Als er zu Boden ging, starrte er Reinhild aus weit aufgerissenen Augen an, bewegte die Lippen, wollte wohl etwas sagen, doch es kam nur ein Gurgeln. Ein Schwall Blut quoll ihm aus dem Mund, sein Blick brach. Der Räuber zog sein Schwert mit einem Ruck zurück und stieß einen Triumphschrei aus. Dann entdeckte er Reinhild. Im ersten Moment verblüfft starrte er sie an, dann trat er flink näher und griff nach ihrem Arm.

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Das Kreuz des Pilgers

Petra Schier

Historischer Roman
HarperCollins Taschenbuch & eBook
ca. 400 Seiten
ISBN 978-3749901-58-6
11,- Euro / eBook 8,99 €

Erscheint am 24. August 2021.

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