»Nenn es bitte nicht Gottlosigkeit, Conlin. Die Liebe ist nicht gottlos, sondern kommt von ihm, vom Allmächtigen. Wer sind wir, dass wir bestimmen wollen, wen sie trifft oder für wen sie uns entbrennen lässt?«
Palmiro in “Das Kreuz des Pilgers”
Palmiro und die Männer
Wer die ersten beiden Bände meiner historischen Pilger-Trilogie Das Kreuz des Pilgers und Das Geheimnis des Pilgers gelesen hat, wird es bereits wissen – alle übrigen: Achtung, Spoiler! Einer meiner Protagonisten, der ehemalige Mailänder Gassenjunge Palmiro, inzwischen Pelz- und Geschmeidehändler in Koblenz, fühlt sich sexuell zu Männern hingezogen. Er hat sogar für lange Zeit eine heimliche Affäre mit dem etwa gleichaltrigen Gottfried von Winneburg geführt, natürlich im Geheimen, während dieser mit Reinhild von Manten verheiratet war.
Später erleben wir, wie Palmiro sich einmal auf einer Reise nach Aachen heimlich des Nachts mit einem jungen Knecht trifft, um Sex mit ihm zu haben, und in Band 2 trifft er sogar auf einen Mann, dem er in mehr als nur sexueller Hinsicht nahekommt – mit allen Komplikationen, die so etwas schon im besten Falle mit sich bringt. Für die damalige Zeit war es im wahrsten Worte brandgefährlich, so zu fühlen.
Nun gut, Palmiro ist also homosexuell. Nichts Besonderes und auch nichts Schlimmes, oder? Zumindest nach unseren heutigen Maßstäben und in unseren Breitengraden. In der Zeit, in der meine Trilogie spielt, also um 1379 herum, galt ein Mann wie er, der Sex mit anderen Männern hatte, als schlimmer Sünder, als Sodomit und Ketzer. Würde er bei seinem Tun erwischt werden oder mittels Zeugen angeklagt, müsste er schwersten Strafen bis hin zum Tod entgegensehen.
Als homosexuell oder schwul hätte hingegen niemand ihn bezeichnet, weil es Homosexualität im Mittelalter nicht gab.
Moment mal, warum gab es die nicht? Frauen, die Frauen und Männer die Männer liebten und begehrten, gab es doch schon immer!
Das ist selbstverständlich richtig, doch der Begriff Homosexualität und das damit einhergehende (Selbst)Verständnis von Menschen, die sich sexuell zu ihrem eigenen Geschlecht hingezogen fühlten, existierte damals noch nicht. Beides entstand erst um die 1870er Jahre und führte zu neuen “Kategorisierungen” von Sexualität in homosexuell/heterosexuell und später auch noch in viele weitere Spielarten.
Im Mittelalter gab es die für uns so selbstverständliche Unterteilung in Homo- und Heterosexualität nicht. Stattdessen ging man davon aus, dass alle Menschen grundlegend gleich geschaffen waren. Klingt erst mal ziemlich modern und wünschenswert, ist aber bei genauerem Hinsehen durchaus prekär für all jene Menschen, die nämlich doch nicht so gleich waren.
Das spätmittelalterliche Welt- und Gesellschaftsbild war von Kirche und Religion geprägt, und die Lehre der Heiligen Römischen Kirche besagt, übrigens auch heute noch, dass jedwede sexuelle Handlung, die nicht auf die Fortpflanzung abzielt, wider die Natur sei. Und zwar in dem Sinne, dass sie quasi gegen die (gottgegebenen) Naturgesetze verstößt. Deshalb gelten gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen, insbesondere der Analverkehr als sündhaft. Sie waren nach damaligem Verständnis so schrecklich und unvorstellbar, dass sie auch als “größte, unaussprechliche Sünde” bezeichnet wurden. Man durfte also sicherheitshalber nicht einmal darüber reden, weil man allein dadurch bereits mit einem Fuß im Fegefeuer stand. Außerdem glaubten die Gelehrten, dass diejenigen, die darüber sprachen, in Gefahr standen, dieser Sünde ebenfalls zu verfallen.
aus dem Nachwort von Das Geheimnis des Pilgers
Sexualität und Lust, so war die herrschende Doktrin, waren einzig und allein dazu da, einen Mann und eine Frau einander zuzuführen, um für Nachwuchs zu sorgen. Keinem anderen Zweck durften sie dienen, denn dieser Zweck war “natürlich”, entsprach also der Natur. Widernatürlich (und damit verdammenswert und verboten) war alles, was in dieser Hinsicht nicht der Fortpflanzung diente. Hierzu zählten neben gleichgeschlechtlichem Sex auch der Sex mit Tieren und die Masturbation. Lust um des reinen Lustgewinns willen hatte nicht stattzufinden und konnte, zum Teil durchaus hart, bestraft werden.
Das ging sogar so weit, dass man annahm, eine Frau könne nur dann ein Kind empfangen, spricht schwanger werden, wenn sie beim Verkehr Lust empfand. Selbiges selbstverständlich ausschließlich in der Ehe, denn außerehelicher Sex war ebenfalls nicht gern gesehen, wenn auch aus anderen Gründen. Wurde eine Frau jedoch nach einer Vergewaltigung schwanger, so konnte es passieren, dass ihre Klage (so sie denn eine erhob) gegen ihren Vergewaltiger abgewiesen wurde. Denn wenn sie ja schwanger geworden war, musste es ihr wohl Freude bereitet haben, was ihr Peiniger mit ihr angestellt hatte.
Nicht alle Gerichte urteilten so, es gibt aber durchaus zahlreiche Quellen, die diese Rechtsprechung belegten. Übrigens konnte sich ein Mann, der eine Frau vergewaltigt hatte, gleich ob sie schwanger wurde oder nicht, oftmals dadurch einer Verurteilung entziehen, dass er sein Opfer ehelichte. Nicht selten wurde dies tatsächlich praktiziert. Ein Mann konnte sogar vom Gericht hierzu gezwungen werden. Wie die betroffenen Frauen darauf reagiert und darüber gedacht haben mögen, wage ich an dieser Stelle nicht weiter zu ergründen, denn dann kämen wir zu weit vom Thema ab.
Homosexualität nein, gleichgeschlechtliche Liebe ja?
Zumindest hinsichtlich der Begrifflichkeiten könnte man es so zusammenfassen. Obgleich man auch argumentieren kann, dass Homosexualität wörtlich übersetzt das Wort gleich (homo) enthält und deshalb als entsprechender zusammengesetzter Begriff für gleichgeschlechtliche Liebe dennoch verwendet werden könnte.
Die mittelalterlichen Quellen sind voll von Hinweisen auf die Existenz gleichgeschlechtlicher Handlungen, Gerichtsurteilen gegen selbige und sogar gleichgeschlechtlichen Paaren, die mehr oder weniger offiziell zu ihrer Neigung standen. Bis hinauf in höchste Adelskreise ziehen sich diese Beispiele, viele stammen jedoch aus dem Bürger- und Handwerkertum, also dem, was wir heute die Mittelschicht nennen würden. Wie es unter Bauern, Tagelöhnern, Schaustellern, Bettlern und allen unehrlichen Berufsgruppen aussah, ist schwer zu sagen, weil hier weder Quellen vorhanden sind noch die Obrigkeit ein großes Interesse gehabt haben dürfte, sogenannte sodomitische Vergehen in diesen Schichten zu ahnden. Man kann aber davon ausgehen, dass, da es Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung schon zu allen Zeiten gab, sich diese auch auf alle gesellschaftlichen Schichten verteilten. Wir dürfen nur nicht annehmen, dass sie ein ähnliches Selbstverständnis von sich und ihrer Sexualität besaßen, wie dies heute der Fall ist. Wie gesagt, eine Unterteilung in hetero- und homosexuelle Neigung kannte man damals nicht. Es gab nur die Lust und das Begehren an sich, das sich im für die damalige Zeit Idealfall auf das andere Geschlecht richtete und hier vorzugsweise auf den eigene Ehepartner bzw. die Ehepartnerin. Alles, was sich außerhalb dieser strengen Grenzen abspielte, wurde abgelehnt, und alles, was darüber hinaus nicht einmal der Fortpflanzung diente, wenn auch nur theoretisch (eine Affäre oder ein Besuch im Bordell taten das wohl eher nicht), galt als wider die Natur und wurde bei Entdeckung hart bestraft.
Wie lebten dann aber Schwule und Lesben im (späten) Mittelalter?
Zunächst einmal hätten sie sich selbst nicht als schwul oder lesbisch bezeichnet, denn diese Kategorien gab es ja so nicht. Die meisten von ihnen dürften ganz regulär in einer Ehe gelebt haben, so sie vom Stand her fähig waren zu heiraten, und auch Kinder dürften vorhanden gewesen sein. Oder sie lebten in eheählichen Gemeinschaften bzw. wilden Ehen oder im Kloster. Schausteller, Gesellen, Bettler, Tagelöhner und so weiter konnten zumeist nicht heiraten, weil sie keinen eigenen Hausstand zu unterhalten fähig waren. Allen war eines gemein: Sie gingen ihrer Neigung im Geheimen nach, und in dieser Hinsicht waren sie sicherlich nicht wenig erfinderisch. Am Ende dieses Artikels werde ich einige Bücher und Webartikel auflisten, in denen diese Themen vertieft werden.
Wenn man annimmt, und dies ist eine durchaus plausible Hypothese, dass es im späten Mittelalter in etwa genauso viele Menschen mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Vorlieben gab wie heute, war deren Zahl alles andere als gering. Genaue Angaben über den Anteil von schwulen und lesbischen Menschen gibt es auch heute nicht, denn Umfragen und Statistiken sind immer nur bedingt aussagekräftig. Doch man kann wohl in etwa mit einem Anteil von vier bis sieben Prozent an der Gesamtbevölkerung ausgehen, zumindest nach aktueller Erkenntnislage im Jahr 2022. Übertragen auf das späte Mittelalter ergibt dies selbst bei deutlich geringerer Zahl der Gesamtbevölkerung eine Menge von Menschen, die nicht so gering ist, dass man sie als nicht erwähnenswert betrachten könnte. Wäre sie das, hätte die Kirche wohl auch keinen Grund gehabt, sich überhaupt damit zu befassen, geschweige denn, solche grausamen Strafen dafür zu ersinnen. Trotzdem darf man auch nicht dem Eindruck verfallen, es habe ab dem späten Mittelalter flächendeckende Schwulen- und Lesbenverfolgungen gegeben. Dem war nicht so. Wohl gab es immer wieder, ganz speziell in den großen italienischen Städten, aber auch auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und anderswo punktuelle Aktivitäten, wie zum Beispiel Razzien an Orten, von denen bekannt war, das sich dort Menschen gleichgeschlechtlicher Neigung trafen.
aus dem Nachwort von Das Geheimnis des Pilgers
Es gab sowohl in großen als auch in mittleren Städten des Mittelalters durchaus schon so etwas wie eine “Subkultur”, zumindest in Ansätzen, die es Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung erlaubte, dieser einigermaßen unentdeckt und unbehelligt nachzugehen. Für Köln zum Beispiel ist belegt, dass es am Heumarkt mehrere “Häuschen” gab, in denen sich laut diverser Kleriker im 14. Jahrhundert und auch später noch die so genannte “faule Gesellschaft” herumtrieb. Faul steht hier für verfault, verdorben. Auch in oder bei öffentlichen Latrinen traf man sich heimlich, ebenso wie in geheimen Nischen an der Stadtmauer. In weniger großen Städten waren die Treffpunkte hingegen häufig in Privathäusern zu finden.
Darüber hinaus gab es Erkennungszeichen, Parolen, Gebärden und so weiter, die es Gleichgesinnten möglich machte, einander zu erkennen, wenn sie es denn nicht schon von ganz allein taten. In Gesprächen mit homosexuellen Menschen beiderlei Geschlechts wurde mir immer wieder bestätigt, dass Schwule und Lesben einander zumeist von ganz allein erkennen. So wird es auch im Mittelalter gewesen sein. Auch in manchen Bordellen konnten Männer “unter der Hand” in Kontakt mit anderen Männern, zumeist jedoch eher mit Lustknaben treten.
Überhaupt zieht sich durch die Mehrzahl der mittelalterlichen Quellen das Schema des Altersunterschieds. Offenbar war die Konstellation älterer Mann – Jüngling weithin sehr beliebt, ebenso wie die Konstellation Jüngling – Jüngling. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch gleichaltrige gleichgeschlechtliche Beziehungen erwachsener Männer gab, sie werden nur deutlich seltener in den Quellen erwähnt.
Bemerkenswert ist hierbei, dass, gerade bei Männern, die Freundes- und „Bruderliebe“ auch und gerade seitens der Kirche, aber auch generell innerhalb der Gesellschaft sehr begrüßt und gefördert wurde, sowohl was das weltliche als auch das klösterlichen Leben anging. Es war nichts Ungewöhnliches oder gar Verdammenswertes, wenn zwei Männer einander umarmten, herzten, sogar Hand in Hand gingen oder einander küssten (auch auf den Mund). Selbst das gemeinsame Schlagen in einem Bett war nichts Ungewöhnliches und galt sogar als Zeichen größter Wertschätzung.
All das wurde als Ausdruck jener Freundschaft angesehen und vollkommen akzeptiert. Erst der Verkehr, hauptsächlich der Analverkehr, machte daraus die unaussprechliche, schreckliche Sünde. Oralverkehr übrigens in etwas abgeschwächter Form ebenfalls, weil auch er nicht der Zeugung diente. Das galt generell, also auch für sexuelle Handlungen zwischen Mann und Frau: Anal- und Oralverkehr waren generell verboten.
aus dem Nachwort von Das Geheimnis des Pilgers
Und was war mit den Frauen?
Was Frauen angeht, ist die Quellenlage deutlich dürftiger, die Bestrafungen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen meistens etwas milder. Speziell wenn sich diese Handlungen zwischen Jungfern abspielten oder zwischen älteren Frauen oder Witwen oder zwischen einer deutlich älteren Frau und einer Jungfer, konnte die Obrigkeit ein Auge zudrücken und Milde walten lassen.
Warum war dies so?
Weil eine Jungfer ebenso wie eine Frau oder Witwe, die bereits Kinder geboren hatte, nun jedoch dazu nicht mehr in der Lage war, nicht so sehr gegen die Natur verstießen wie eine Frau im gebärfähigen Alter, die sich nur zum eigenen Lustgewinn mit einer anderen Frau vergnügte. Eine Jungfer war noch nicht in der Lage, ihrer natürlichen Rolle nachzukommen (weil unverheiratet) und eine ältere Frau, die schon Kinder geboren hatte, hatte ihre Pflicht bereits getan. Selbst wenn sie keine Kinder hatte, dazu aber inzwischen zu alt war, gehörte sie nicht mehr zu der Kategorie Frauen, die der Natur gegenüber ihre Pflicht zu erfüllen hatten. Eine Frau aber, die verheiratet und gebärfähig war, hatte ihre Lust ausschließlich auf dem eigenen Ehelager zu befriedigen, mit ihrem Mann und um Kinder zu zeugen. Nahm sie sich als Gespielin eine Frau, handelte sie gegen die Natur und versündigte sich erheblich, was ebenso wie beim Verkehr zwischen zwei Männern (der ja ebenfalls und hier sogar grundsätzlich nicht der Fortpflanzung diente) sogar die Todesstrafe nach sich ziehen konnte.
Frauen waren hingegen dennoch oft im Vorteil, weil es für ihre Art der Sünde oftmals nicht einmal eine passende Begrifflichkeit gab und weil man tendenziell eher nach männlichen Sodomiten Ausschau hielt.
Früher war alles besser … Irgendwie. Also ganz, ganz früher.
In der Antike (und vermutlich auch schon davor, doch da fehlen meist Quellen) wurden gleichgeschlechtliche Handlungen in der Regel geduldet, manchmal sogar bei Männern gutgeheißen, die nicht oder noch nicht in der Lage waren, eine Familie zu gründen, und eher selten verfolgt. Auch das frühe und hohe Mittelalter ließ in dieser Hinsicht häufig Milde walten bzw. es wurde einfach nicht die Notwendigkeit gesehen, gegen Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung vorzugehen.
Neue Kirchenlehren und -auslegungen, theologische Abhandlungen sowie eine sich verschärfende generelle Ablehnung gegenüber allen Lebensformen, die sich nicht streng im Rahmen der von der Kirche vorgegebenen Regeln abspielten, führten etwa ab Mitte bis Ende des 14. Jahrhunderts dazu, dass die gleichgeschlechtliche Sexualität in Grund und Boden verdammt und mit den härtesten Strafen bis hin zum Tod belegt wurde.
aus dem Nachwort von Das Geheimnis des Pilgers
Die genauen Gründe dafür hier aufzuschlüsseln, würde zu weit gehen. Noch einmal möchte ich hierzu auf die entsprechende Fachliteratur verweisen (siehe Ende des Artikels).
Aber sie taten es trotzdem!
Bemerkenswert ist jedoch, dass es dennoch ganz offensichtlich Menschen gab, die trotz der Gefahr, in der sie durch ihre Neigung schwebten, jahrelang unbehelligt damit leben und sie wohl auch ausleben konnten. Sogar Paarbeziehungen zwischen Männern gab es, die offen gelebt und von der Gesellschaft anerkannt oder doch zumindest stillschweigend geduldet wurden. Oftmals wurden solche Partnerschaften (die man dennoch nicht mit einer Ehe vergleichen darf, denn diese zielte ja in erster Linie auf die Produktion von Nachwuchs ab) als Geschäftsbeziehungen geschlossen bzw. deklariert. Zwei Männer lebten (wie Brüder) in einem Haushalt, halfen und unterstützten einander gegenseitig, kamen füreinander auch finanziell auf und regelten das Miteinander durch einen entsprechenden schriftlichen Vertrag. Darin ähnelten sie im Übrigen durchaus Eheleuten, denn eine Ehe war über Jahrhunderte ebenfalls nichts weiter als ein weltlicher Vertrag, der zwischen zwei Menschen bzw. Familien geschlossen wurde. Erst relativ spät mischte die Kirche sich ein und belegte die Ehe zusätzlich mit einem Sakrament. Letzteres gab es natürlich für eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft bzw. einen solchen Vertrag nicht, das war ausgeschlossen.
Dennoch konnte er geschlossen werden und Nachbarschaft, Freunde und Stadtobrige erhielten damit eine legitimierte Begründung für das Zusammenleben zweier Männer. Sex war natürlich nicht Bestandteil dieses Vertrags, doch ob es nun welchen gab oder nicht, danach fragte vermutlich kaum jemand, solange der schöne Schein aufrechterhalten wurde und man guten Gewissens annehmen konnte, dass hier lediglich eine brüderliche Partnerschaft bestand.
Wie oben bereits erwähnt, galt so etwas eher nicht für die unteren Schichten, denn hier krähte im wahrsten Sine kein Hahn danach, wer was mit wem trieb, solange es nicht öffentlich geschah, einvernehmlich blieb und niemandem ein Dorn im Auge war.
Und was ist mit der Liebe?
Liebten einander denn die Menschen nicht so wie wir heute? War alles nur Sex und Befriedigung von Bedürfnissen?
Nein, selbstverständlich nicht. Auch hierzu gibt es genügend Quellen, oftmals aus Strafprozessen gegen die so genannten Sodomiten, unaussprechlichen Sünder oder Ketzer, in denen diese selbst zu Protokoll geben, in Liebe zu einem Jüngling oder anderen Mann entbrannt zu sein. (Zu Frauen gibt es auch hier nur wenig bis keine Quellen.) Mit anderen Worten: Sie hatten sich verliebt. Mit allen Konsequenzen. Und diese Liebe hatte schließlich auch zu sexuellen Handlungen geführt. Pech hatte, wer dabei erwischt oder beobachtet und angeklagt wurde.
Conlin verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Liebe, ja, das mag sein. Doch das ist etwas anderes, als sich mit einem Mann in … in Wollust zu ergehen.«
Palmiro schluckte gegen ein unpassendes Lachen an. »Du klingst selbst wie ein Inquisitor, Conlin. Doch sei einmal ehrlich: Die Liebe zwischen Mann und Frau kann eben diese Wollust hervorrufen, oder etwa nicht? Was lässt dich denken, dass es zwischen zwei Männern, die einander lieben, nicht genauso sein kann?«
»Das ist doch etwas vollkommen anderes!«
»Nur, weil du es selbst nie erlebt hast, mein Freund.« Palmiro überlegte sich seine nächsten Worte genau. »Du selbst quälst dich in Zweifeln und Ängsten wegen einer Frau, deren Zuneigung du dich unwürdig erachtest. Nein, leugne es nicht, Conlin. Dir selbst kannst du viel vormachen, mir jedoch nicht. Ich kenne dich schon seit langer Zeit und weiß, was dich umtreibt. Doch was macht deine Gefühle, deine Liebe reiner und göttlicher als die meine? Würdest du zu dieser Liebe stehen und Reinhild tatsächlich dein Weib werden, würdet ihr diese Liebe auch körperlich vollziehen, oder etwa nicht? Ich weiß, was die Priester uns erzählen. Der Beischlaf zweier Eheleute ist keusch, weil er dazu dient, Kinder zu zeugen. Ihre Liebe ist keusch, weil der Allmächtige sie gegeben hat. Weil Gott stets genau weiß, was recht ist und was unrecht, was keusch ist und was Sünde. Ist ihm also ein Fehler unterlaufen, als er mich oder Gottfried erschuf und uns die Liebe füreinander ins Herz pflanzte?
aus: Das Kreuz des Pilgers
Sodomie – Die größte, unaussprechliche Sünde
Zu den Begrifflichkeiten Sodomie und Ketzerei: Da es kein Verständnis von anderen sexuellen Neigungen als der zwischen Mann und Frau gab und diese als allein naturgewollt (zur Fortpflanzung) galt, wurden alle anderen Präferenzen und Handlungen gesammelt als wider die Natur angesehen und als Sodomie bezeichnet. Damit wurde der gleichgeschlechtliche Verkehr dem mit Tieren gleichgestellt und als gleichermaßen verabscheuungswürdig und „unnatürlich” angesehen. Da Sodomie generell eine Sünde wider die Natur war und die Natur wiederum als gottgegeben galt, war es ein logischer Schritt, Sodomiten auch als Ketzer zu bezeichnen und zu bestrafen, die sich gegen die geltenden Kirchenregeln versündigten. Tatsächlich führte das sogar dazu, dass der sexuelle Verkehr zwischen zwei Männern als „ketzern” bezeichnet wurde und auch so im aktiven Sprachgebrauch vorkam. Es gibt Protokolle von Verhören, in denen die die Angeklagten aussagten, sie seien von ihrem Sexualpartner „geketzert“ worden oder hätten ihn „geketzert”.
aus dem Nachwort von Das Geheimnis des Pilgers
Ich habe lange darüber nachgegrübelt, wie ich auf Nachfragen bei Lesungen, in Leserunden oder auch E-Mails oder anderweitigen Gesprächen erklären kann, als wie schrecklich und entsetzlich den Menschen gleichgeschlechtlicher Sex vorgekommen sein muss. Auch wenn es leider auch heute noch durchaus in vielen Teilen der Welt Homophobie gibt und Homosexuelle zum Teil hart bis zum Tode bestraft werden, ist es doch für uns aufgeklärte, moderne Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer im Allgemeinen mittlerweile vollkommen normal und natürlich, dass zwei Männer oder zwei Frauen einander lieben und Sex miteinander haben. Über diese Entwicklung können wir glücklich und auf sie dürfen wir stolz sein, denn:
»Was ist die Liebe, wenn sie tief im Herzen eingeschlossen bleiben muss? Was ist sie, wenn sie nicht gezeigt, gefühlt, geteilt und gelebt werden darf? Sie wäre kümmerlich und nicht der Bezeichnung Liebe wert.«
Palmiro in “Das Kreuz des Pilgers”
Und auch Reinhild fragt ihren Verlobten Conlin in diesem Zusammenhang:
»Warum sollte der Herr ihn so erschaffen haben, wenn er ihn zugleich dafür verdammt?«
aus: Das Geheimnis des Pilgers
Mir kommt eigentlich nur ein Vergleich in den Sinn, der uns modern denkenden Menschen vor Augen führt, wie Menschen des Spätmittelalters gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen eingeordnet haben mögen. Dieser Vergleich hinkt vielleicht ein wenig, dennoch ist er in meinen Augen nützlich, um ein grundlegendes Verständnis vom Denken und Fühlen des spätmittelalterlichen Menschen zu erhalten.
Wenn wir heute gefragt werden, welche Art von sexuellen Handlungen wir in Grund und Boden verurteilen und mit den härtesten Strafen belegt sehen wollen, werden mit großer Wahrscheinlichkeit neben Vergewaltigung aller Art die meisten von und die Pädophilie nennen. Sie ist für die meisten von uns derart negativ belegt, eine beinahe schon unaussprechliche Schandtat und außerhalb aller gesellschaftlichen Normen, dass sie sich als Vergleichsobjekt äußerst gut heranziehen lässt.
Mit anderen Worten: Was für uns heute die Pädophilie, war für den spätmittelalterlichen Menschen der gleichgeschlechtliche Sex. Sex mit Kindern war darüber hinaus damals grundsätzlich auch verboten und mit schweren Strafen belegt, sah man einmal von der Verheiratung oft noch extrem junger Mädchen ab, die zwar nicht durchweg als akzeptabel galt, jedoch durch die Eheschließung an sich doch wieder einigermaßen gesellschaftsfähig und in Adelskreisen oftmals sogar durchaus üblich war.
Niemand weiß, wie unsere Gesellschaft in fünfhundert Jahren über Pädophilie denken wird. Aus unserer heutigen Sicht scheint es undenkbar, das so etwas jemals gesellschaftlich anerkannt sein könnte.
Doch ebenso verhielt es sich mit dem gleichgeschlechtlichen Sex im späten Mittelalter und noch sehr lange darüber hinaus. Über Jahrhunderte war es undenkbar – mit allen Ressentiments, die wir entsprechend heute gegen Pädophilie empfinden –, dass der Sex zwischen zwei Männern oder zwei Frauen einmal als normal, natürlich und selbstverständlich angesehen werden könnte.
Hier, das hatte ich weiter oben schon angedeutet, hinkt der Vergleich leider, denn weder möchte ich Pädophilie in irgendeiner Form mit Homosexualität gleichsetzen, noch will ich andeuten, dass unsere oder irgendeine Gesellschaft Pädophilie eines Tages als normale Spielart der Sexualität anerkennen sollte.
Mir geht es bei diesem Vergleich ausschließlich darum, den Grad der Ablehnung verständlich zu machen, dem Menschen, die gleichgeschlechtlich liebten bzw. Sex hatten, im späten Mittelalter ausgesetzt waren.
Und dennoch … dennoch …
Die Liebe ist so alt wie die Menschheit selbst. Anzunehmen, es hätte sie im Mittelalter nicht gegeben, ist weltfremd. Möglicherweise wurde sie etwas anders wahrgenommen und/oder gelebt, doch ihr Vorhandensein ist nicht zu leugnen. Lediglich der Lust oder Bedürfnisbefriedigung wegen dürften jene Menschen, die sich sexuell zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten, sich nicht dem Risiko ausgesetzt haben, entdeckt zu werden, das zum Beispiel ein dauerhaftes Zusammenleben mit einem gleichgeschlechtlichen Partner (oder einer gleichgeschlechtlichen Partnerin) nach sich gezogen hätte.
Aufgrund meiner Recherchen bin ich zu dem vorläufigen und immer noch erweiterbaren Schluss gekommen, dass gleichgeschlechtliche Liebe im 14. Jahrhundert zwar gefährlich, jedoch nicht gänzlich unmöglich war. Gerichtsprotokolle zu einschlägigen Prozessen legen nahe, dass die Obrigkeit sich weitgehend heraushielt, solange die öffentliche Ordnung nicht gefährdet war oder es zu einer direkten Anklage kam. Beschuldigte ein Mann einen anderen, mit ihm jene „unaussprechlichen“ Handlungen vollzogen oder es auch nur versucht zu haben, war davon auszugehen, dass hier keine Einvernehmlichkeit bestanden hatte. Vielleicht gar eine Vergewaltigung. In solchen Fällen kam es natürlich zu einem Prozess mit für die Beteiligten ungewissem Ausgang. Von Geld-, Körper- und Gefängnisstrafen bis hin zur Vertreibung aus der Stadt und der Todesstrafe war, je nach Schwere der Tat und Erwägung des Gerichts alles möglich. Im Zweifelsfall wurde eher die schwerere oder schwerste Strafe gewählt, wobei es aber auch wieder davon abhing, welchen gesellschaftlichen Rang und welche Verbindungen bzw. Fürsprecher die Angeklagten besaßen.
Auch ein in flagranti Ertappen oder ein Anschwärzen durch Dritte (oder einen der Beteiligten) kam vor und lässt nicht selten im Gesamtzusammenhang darauf schließen, dass hier eher generelle Missgunst oder anderweitige Streitigkeiten, Neid oder Rang- und Machtkämpfe als Ursache für eine Verfolgung der Tat zu sehen sind, nicht die gleichgeschlechtliche Handlung an sich, die nicht selten als Mittel instrumentalisiert wurde, unerwünschte Menschen loszuwerden.
Natürlich wurden auch immer wieder die oben erwähnten Razzien an besonders bekannten Örtlichkeiten durchgeführt, jedoch selten völlig grundlos, sondern meist dann, wenn die Obrigkeit und / oder die Kirche gegen den Sittenverfall vorgehen wollte oder die öffentliche Ordnung in Gefahr sah.
aus dem Nachwort von Das Geheimnis des Pilgers
In meiner Pilgertrilogie gehe ich einerseits der Frage nach, wie ein Mensch mit solch einer Neigung im Alltag hätte umgehen können und welche Perspektiven auf dauerhaftes Glück (und Liebe) er womöglich hatte. Andererseits hat es mich gereizt zu ergründen (oder zu fabulieren), wie ein Mensch damit umgeht, der zu jener Zeit und vielleicht erst als Erwachsener entdecken und begreifen muss, dass er eine gleichgeschlechtliche Neigung besitzt. Wie reagiert er bei dieser Erkenntnis? Welche Ängste treiben ihn um? Entwickelt er womöglich einen Selbsthass, weil er sich selbst als unrein oder widernatürliche Kreatur wahrnimmt? Und gibt es eine Instanz – und kann dies die Liebe sein? – die all dies wieder wettmacht?
In diesem Sinne möchte ich zum Abschluss noch einmal Palmiro zitieren, und zwar mit Worten, die für das späte Mittelalter ebenso gültig waren, wie sie es auch heute noch sind:
Sag mir, wer ist der größere Ketzer? Ich, der ich die Liebe, die in meinem Herzen wohnt, annehme und lebe, wenn ich auch stets der Gefahr ausgesetzt bin, entdeckt zu werden und schwer dafür büßen zu müssen? Oder ist nicht vielmehr derjenige häretischen Gedanken verfallen, der Gottes Schöpfung anzweifelt und ihm unterstellt, aus Dummheit oder niederen Gründen von seinem Plan abgewichen zu sein, uns Menschen nach seinem Abbild zu erschaffen?
aus: Das Kreuz des Pilgers
Quellen- und Literaturangaben zum Thema Homosexualität im späten Mittelalter
Literatur:
John Boswell, Christianity, Social Tolerance und Homosexuality: Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century, University of Chicago Press, 2005
Bernd-Ulrich Hergemöller, Mann für Mann. Ein biographisches Lexikon, Suhrkamp Taschenbuch, 2001
Bernd-Ulrich Hergemöller, Sodom und Gomorrah – Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter, MännerschwarmSkript, 2000
Saskia Kölsch, Homosexualität im Mittelalter: Ansichten in Kirche und Gesellschaft, München, GRIN Verlag, 2014
Artikel im Internet:
Die „Ehe für alle“ – schon im Mittelalter ein Thema?
Die Verfolgung Homosexueller in der frühen Neuzeit
Gleichgeschlechtliche Liebe war in Ordnung, Sex verboten
Sexcrimes! – Homosexuelle Partnerschaften im Mittelalter – Geschichtskrümel 84
Hof und Homosexualität: Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert
Homosexualität (Wikipedia Artikel mit weiteren Literaturangaben)
Homosexualität in der Geschichte: Von der Antike bis heute (YouTube)
Liebe zwischen Ausgrenzung und Verfolgung: Schwule im Mittelalter: ein Überblick
[SCHWULE WELLE] Homosexualität – auch im Mittelalter? (Audiobeitrag/Podcast)
Sodomiterverfolgung (Wikipedia Artikel mit weiteren Literaturangaben)
Dies ist selbstverständlich nur eine kleine Auswahl an Literatur und Weblinks, die ich zu meinen Recherchen herangezogen habe. Alle Quellen zusammenzutragen, würde den Rahmen dieses Blogartikels sprengen.
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Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit Mann und Hund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet seit 2003 als freie Autorin. Ihre historischen Romane erscheinen im Rowohlt Taschenbuch Verlag, ihre Weihnachtsromane bei Rütten & Loening sowie MIRA Taschenbuch.
Unter dem Pseudonym Mila Roth veröffentlicht die Autorin verlagsunabhängig verschiedene erfolgreiche Buchserien.
Petra Schier ist Mitglied in folgenden Autorenvereinigungen: DELIA, Syndikat, Autorenforum Montségur
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