Im Jahr 2008 erschien der dritte und, wie ich dachte, letzte Band der Adelina-Reihe Verrat im Zunfthaus. Sein Ende war so angelegt, dass es als Abschluss einer Trilogie einwandfrei funktionierte. Ich brach schriftstellerisch auf zu neuen Ufern, begann die Aachen-Trilogie und Die Eifelgräfin.

Allerdings hatte ich die Rechnung ohne meine Leserinnen und Leser gemacht. Die fragten nämlich recht bald nach, wann denn der nächste Adelina-Roman erscheinen würde, denn Teil 3 sei doch wieder so toll gewesen. Das passierte per E-Mail, in den sozialen Netzwerken, auf Lesungen, einfach überall.

Was also tun? Gar nichts. Mein Unterbewusstsein hatte nämlich offenbar nur darauf gewartet, einen solchen massiven Anstoß zu erhalten, und schon kamen mir verschiedene Ideen für Szenen in den Sinn, aber noch kein guter Krimi-Plot. Das Problem war, dass sich in den Jahren nach 1398 die politische Situation in Köln einigermaßen beruhigt hatte. Der Verbundbrief war unterzeichnet und in Kraft getreten. Die ehemals verfeindeten oder der Stadt verwiesenen Patrizier kehrten in Frieden zurück, waren hingerichtet worden oder hatten sich neue Aufgaben oder Ziele gesucht. Alles gut. Na ja, nicht für eine Autorin auf der Suche nach einem Setting.

Dann stolperte ich über einen Zeitungsartikel (den ich leider leider nicht mehr finde!) über den Fund eines Beinhauses in Köln. Eine mittelalterlichen Beinhauses. Zufall? Schicksal? Wink des Universums? Was auch immer es war, es setzte meine Phantasie in Gang.

Was, so fragte ich mich, wäre in einer Stadt wie Köln im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert passiert, wenn jemand Knochen aus einem solchen Beinhaus entwendete? Wie hätten die Menschen darauf reagiert? Welchen Grund könnte der Diebstahl haben? Und was würde Adelina tun, wenn der Verdacht auf jemanden fällt, den sie liebt?

Parallel dazu recherchierte ich die Unterwelt Kölns. Nicht die kriminelle, sondern die greifbare. Köln ist nämlich praktisch unterkellert von alten römischen Palästen, Gängen, Wasserleitungen. Es gibt heute sogar Führungen durch diese Unterwelt.

Beides zusammen ergab einen höllisch guten Krimiplot. Und schon konnte ich dem Verlag eine Idee übermitteln. Dort freute man sich sehr darüber, dass es nun doch mit Adelina weitergehen sollte. Ein Titel war dann auch schnell gefunden, den wir gemeinsam erarbeiteten. Das Beinhaus kam von mir, der Frevel vom Verlag. Zusammen wurde daraus Frevel im Beinhaus.

Meine Adelina-Romane zeichnen sich aber nicht allein durch einen spannenden Kriminalfall aus. Adelina führt eine Apotheke und hat einen großen, turbulenten Haushalt: Einen kleinen Sohn, eine Stieftochter, ein vorlautes Lehrmädchen mit adeligen Wurzeln, einen zurückgebliebenen Bruder, Hund, Katze, nicht zu vergessen ihren Ehemann Neklas, der nicht nur städtische Medicus, sondern auch Adept der Alchemie ist und außerdem einige  dunkle Flecken in seiner Vergangenheit aufzuweisen hat. Dann noch einiges an Gesinde, gute Freunde und nicht zuletzt Bruder Thomasius, einen unangenehmen Schatten aus Neklas’ Vergangenheit. All diese Personen musste ich auch noch in die Geschichte hineinbringen. Außerdem kam mir die brillante Idee, dass sie ja erneut schwanger sein könnte. Hochschwanger.

Normalerweise lasse ich den Familienpart im Exposé weitgehend aus, wenn er nicht direkt mit der Haupthandlung zu tun hat. Die Nebenhandlungen entwickeln sich immer ganz von selbst, wenn ich einmal mit dem Schreiben anfange.

So war es diesmal auch, aber – Heiliges Kanonenrohr! – was sich da tat, damit hatte ich nicht gerechnet. Es gab nämlich gleich zwei Figuren, die mich und die Leser seit Band 1 bereits durch die Romane begleiteten, und von denen ich eigentlich dachte, dass ich sie kenne. Klar, schließlich waren sie ja meiner Phantasie entsprungen. Ich hatte sie erschaffen. Also wusste ich doch wohl auch alles über sie. Dachte ich.

Weit gefehlt! Ich wusste gar nichts. Null. Nada. Oder sagen wir, ich kannte jeweils nur die winzige Spitze des Eisbergs.

Fangen wir mit der Figur an, die schon immer eng mit den Kriminalfällen verbunden war: Bruder Thomasius, der Dominikaner, der Neklas seit dessen Ketzereianklage in Italien auf Schritt und Tritt verfolgt. Ich werde hier nicht verraten, wer oder was Thomasius wirklich ist, denn für den Fall, dass ihr das Buch oder gar die gesamte Reihe noch nicht kennt, sollt ihr ja noch Spaß daran haben, es selbst herauszufinden.

Aber so viel kann ich verraten: Thomasius ist das, was man im Amerikanischen gerne “pain in the ass” nennt. Eine grauenhafte Nervensäge, der jedem und allen auf den Geist geht und scheinbar immer nur das Schlimmste heraufbeschwört. Ich habe seinen Charakter schon immer geliebt, weil er so schön fies ist. Nicht böse, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Aber er ist ein phantastischer Gegenpol zu Adelina und Neklas und stiftet ständig Unfrieden, selbst wenn er tatsächlich einmal etwas Hilfreiches tut.

Je weiter sich Frevel im Beinhaus entwickelte, je näher ich dem Showdown kam, desto klarer wurde mir, dass Thomasius ein großes Geheimnis vor den anderen Figuren vorborgen hatte. Und auch vor mir! Ich war wie vor den Kopf gestoßen, als ich entdeckte, was wirklich hinter seinem Verhalten, hinter all seinen Taten und Bosheiten steckte.

Wie so etwas sein kann, fragt ihr? Keine Ahnung. Die Frage kann ich gerne an mein Unterbewusstsein weiterleiten, aber es ist fraglich, ob es euch antworten wird. Manchmal braucht es offenbar seine Zeit, bis man Zusammenhänge im vollen Ausmaß begreift. Jedenfalls war Thomasius mit der Offenbarung seines wahren Ichs eine der größten Überraschungen für mich, seit ich Romane schreibe.

Die zweite Figur, die sich mir (allerdings schon etwas früher in der Geschichte) offenbarte, war Tilmann Greverode, der Hauptmann der Stadtsoldaten. Auch so jemand, der Adelina und den ihren das Leben nicht gerade leicht gemacht hat. Welche Gründe er für sein Verhalten hatte, hat mich, ehrlich gesagt, beinahe vom Stuhl gehauen. Als er sich mir offenbarte, war ich erst mal total verstört, weil ich damit so gar nicht gerechnet hatte.

Rückblickend muss ich aber sagen, dass alles, was bis dato geschehen war und mit ihm in Zusammenhang stand, sehr schlüssig auf diese Offenbarung hingesteuert hat. Wohlgemerkt, ohne dass ich auch nur den winzigsten Schimmer davon hatte.

Chronik zur Geschichte der Stadt Köln

Chronik zur Geschichte der Stadt Köln, Bände 1+2            Quellen zur Geschichte der Stadt Köln                Drei Bücher, die die Recherche zu meinen Adelina-Romanen ständig begleitet haben und noch begleiten.

Mit anderen Worten: Schon seit Band 1 hat mein Unterbewusstsein bereits genau an diesen beiden Figuren heimlich, still und leise gearbeitet. Es hat irgendwie gewusst oder gespürt, was hinter ihren Fassaden verborgen war und dann  – Bäm! – im rechten Augenblick die Bomben platzen lassen.

Wie gerne hätte ich die Gesichter meiner Leser gesehen, als sie die Wahrheit entdeckten!

An diejenigen unter euch, die das Buch bzw. die ganze Reihe gelesen haben:

Erinnert ich euch noch daran, was ihr empfunden und/oder gedacht habt, als ihr die Wahrheit über Greverode oder Bruder Thomasius erfahren habt? Wenn ihr möchtet, erzählt mir in den Kommentaren davon!

Warum aber, fragt ihr euch jetzt, ist es (laut Überschrift dieses Artikels) gut, wenn die Autorin selbst nicht Bescheid weiß? Ist das nicht vielmehr hinderlich und gefährlich? Wie kann man unter solchen Umständen logische Geschichten aufbauen, ohne Angst haben zu müssen, dass die Figuren einem mit den seltsamsten Enthüllungen alles durcheinanderbringen?

Ich sehe es so: Durcheinander gebracht haben diese beiden gar nichts. Im Gegenteil, sie haben absolut logische und nachvollziehbare Begründungen für ihr in der Vergangenheit oftmals gemeines, boshaftes und nicht immer nachvollziehbares Verhalten geliefert. Oder besser: Nachvollziehbar war es vielleicht im jeweiligen Kontext schon, aber erst das große Ganze macht daraus ein unerwartetes, spannendes und gleichzeitig überaus schlüssiges Gesamtbild.

Dass ich selbst nichts davon wusste, hat es mir ermöglicht, die Vorgängerbände unbelastet zu verfassen und nicht in Versuchung zu geraten, Andeutungen zu streuen, die dann in Frevel im Beinhaus den Knalleffekt nur gedämpft hätten, weil die Leser vielleicht schon eine Ahnung gehabt hätten, worauf das Ganze hinauslaufen könnte.

So etwas setzt natürlich ein erhebliches Maß an Vertrauen voraus, dass ich in meine Figuren haben muss, in meinen eigenen kreativen Prozess und in mein Unterbewusstsein. Spätestens seit dieser Erfahrung habe ich dieses Vertrauen, und wenn mir manchmal etwas seltsam vorkommt an meinen Figuren, weiß ich, dass da unter der Oberfläche etwas gärt und lauert und wartet, zur rechten Zeit an die Oberfläche gespült zu werden.

Dass sich Figuren verselbstständigen, habe ich ja schon in der Vergangenheit häufig berichtet. Auch einen ganzen Artikel habe ich vor längerer Zeit darüber verfasst. Der Punkt (oft recht früh in einem Roman), an dem das geschieht, zeigt mir, dass die Charaktere lebendig sind und genauso auch auf die Leserinnen und Leser wirken werden. Und genau das ist es ja, was ich als Autorin erreichen möchte. Ich möchte euer Kopfkino anknipsen, und das funktioniert nur, wenn es bei mir schon beim Schreiben eingeschaltet ist. Auch wenn das bedeutet, dass die Figuren immer und immer wieder ganz andere Wege beschreiten, als ich ursprünglich dachte, um zu dem Ziel zu kommen, das ich ihnen zugedacht habe.

Wenn Figuren es aber sogar schaffen, über mehrere Romane – sprich: über Jahre! – hinweg solche Geheimnisse selbst vor mir zu bewahren, dann begreife ich auch, warum es so viele Leser gibt, die sich fühlen, als würden sie nach Hause kommen, wenn sie einen neuen Adelina-Band in den Händen halten und zu lesen beginnen. Dann habe ich Charaktere geschaffen, die nicht nur lebendig und tiefgründig sind, sondern die unvergessen bleiben.

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Wenn die Knochen sprechen.

Ein gottloser Frevel empört die Kölner Bürger: Aus einem Beinhaus wurden Schädel und Knochen entwendet. Kurz darauf wird im Hinterhof der Apothekerin Adelina eine schwangere Frau ermordet. Sogleich gerät Medicus Neklas Burka, Adelinas Gemahl, in Verdacht, die Frau für seine Experimente missbraucht zu haben.
Adelina ist entschlossen, seine Unschuld zu beweisen. Doch selbst ihr kommen Zweifel, als sie wenig später in ihrem Keller einen geheimen Raum mit menschlichen Schädeln und Knochen findet …

Neugierig und furchtlos: Apothekerin Adelina geht wieder auf Mörderjagd.

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Frevel im Beinhaus

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