Es dauert nur noch elf Tage, bis mein neuer Weihnachtsroman Weihnachtszauber und Hundepfoten endlich das Licht der Welt (oder vielmehr der Buchhandlungen) erblickt. Deshalb möchte ich euch heute noch einmal eine Textprobe präsentieren, in der ihr nicht nur wieder die beiden, pardon drei, Hauptfiguren trefft, sondern auch einen Hauch von Spannung erleben dürft. In der diesjährigen Geschichte ist nämlich längst nicht alles Friede, Freude, Eierpunsch. Aber lest selbst:

Aus dem 14. Kapitel

Sag mal, Herrchen, was soll das eigentlich? Erst nervst du mich mit diesem fürchterlichen Staubsauger, und jetzt rennst du hier schon die ganze Zeit in der Wohnung hin und her und räumst alle Sachen weg, die wir die letzte Woche so schön an tausend Stellen abgelegt haben. Sogar mein ganzes Spielzeug liegt jetzt wieder in der Kiste drüben hinter der Couch! Dabei hatte ich mir wirklich Mühe gegeben, jedes Teil sehr sorgfältig an einem bestimmten Platz in der Wohnung zu deponieren, damit ich immer schnell Zugriff darauf habe und nicht immer extra zu dieser blöden Box rennen muss. Hoch aufgerichtet und leise vor sich hin brummelnd saß Sissy mitten in Lennarts Wohnzimmer und beobachtete jede seiner Bewegungen mit leicht zusammengekniffenen Augen.

Jedes Mal, wenn Lennart beim Aufräumen durch das Zimmer ging, musste er sie umrunden. »Sissy, Süße, du sitzt mir ein kleines bisschen im Weg.«

Das weiß ich, und das ist auch volle Absicht. Leider funktioniert es nicht. Würdest du nicht viel lieber ein bisschen mit mir spielen oder kuscheln, anstatt unsere gemütliche Unordnung zu beseitigen?

»Vielleicht sollte ich dir beibringen, deine Sachen selbst aufzuräumen«, schlug er grinsend vor. »Ich habe neulich ein Video auf Instagram gesehen, wo genau erklärt wurde, wie man Hunden so etwas beibringt.«

Echt jetzt? Warum sollte ich denn meine Sachen aufräumen? Ich sagte doch, ich habe sie mit voller Absicht an die Stellen gelegt, wo sie jetzt leider nicht mehr liegen. Jetzt muss ich mit der ganzen Arbeit von vorne anfangen.

»Schau mich nicht so an!« Lachend tätschelte Lennart Sissys Kopf. »Ein bisschen Ordnung muss nun einmal sein. Schließlich sind wir am Wochenende nicht dazu gekommen, hier Klarschiff zu machen.« Seine Gedanken wanderten unwillkürlich zurück zum gestrigen Tag und damit auch zu Melissa, was gemischte Gefühle in ihm hervorrief. Er hatte ihr gern beim Umzug geholfen und auf diese Weise natürlich so einiges über sie erfahren. Einerseits bewunderte er sie für ihren Mut, zusammen mit ihrem kleinen Sohn neu anzufangen und sich ohne jede Hilfe ein Leben aufzubauen. Andererseits schien sie tief durchdrungen von Selbstzweifeln und Ängsten zu sein. Ihm war klar, dass es eine große Herausforderung bedeuten würde, sich stärker auf sie einzulassen. Dass sie es unbedingt wert war, stand außer Frage, doch ihm war noch nicht so recht klar, wie er dabei vorgehen sollte. Sie schreckte vor jeglicher Nähe oder auch nur deren Andeutung zurück und schien sich, was natürlich mehr als verständlich war, ausschließlich auf die Beziehung zu ihrem kleinen Sohn und dessen Wohlergehen konzentrieren zu wollen, ohne zu bemerken, dass sie die Zuwendung, die sie Andy gab, auch dringend selbst brauchte. Aus ihrem Verhalten und ihren Reaktionen schloss er, dass ihre Reserviertheit und Zurückhaltung nicht ausschließlich in ihren schlimmen Erfahrungen mit ihrem Exmann wurzelten, sondern sogar noch deutlich weiter in die Vergangenheit zurückzureichen schienen.

Die böse, böse Kindheit, dachte er bei sich. Entweder sie verlief glücklich und verhalf zu einem gesunden Selbstbewusstsein und einer positiven Einstellung dem Leben und den Menschen gegenüber, oder sie war auf die eine oder andere Weise verkorkst, sodass ihr Nachhall viele Jahre belastend und einschränkend zu spüren war. Er selbst hatte das Glück gehabt, eine wirklich schöne Kindheit erleben zu dürfen. Dass seine Mutter ihn und Lena im Stich gelassen hatte, als sie noch ganz klein gewesen waren, hatte sich nicht allzu negativ auf ihr Leben ausgewirkt. Natürlich wusste er, dass sein Vater damals eine ganze Zeit lang traurig gewesen sein musste und schwer gekämpft hatte, dennoch hatte er immer – immer! – dafür gesorgt, dass Lena und Lennart sich beschützt, wertgeschätzt und geliebt gefühlt hatten. Arndt Overbeck hatte es geschafft, die Rolle von Vater und Mutter so in einer Person zu vereinigen, dass seinen Kindern emotional nie etwas gefehlt hatte. Dafür hatte er, das hatte Lennart erst als Erwachsener im Rückblick erkannt, viel aufgegeben. Wenn es im Leben seines Vaters in all den Jahren Frauen gegeben hatte, dann immer nur sehr kurz, sehr diskret und niemals in einer Form, die auf eine ernste Bindung hätte hinauslaufen können. Tatsächlich konnte Lennart sich fast gar nicht daran erinnern, dass sein Vater jemals eine Frau erwähnt, geschweige denn ihnen vorgestellt hätte. Selbst als die beiden Geschwister schließlich erwachsen gewesen waren, hatte sich daran kaum etwas geändert.

Hin und wieder fragte Lennart sich, ob sein Vater sich wohl einsam fühlen mochte. Seltsamerweise war dies das einzige Thema, über das sie nie offen miteinander geredet hatten. Vielleicht, so führte er den Gedanken fort, war es dafür allmählich an der Zeit. Sein Vater war noch nicht Mitte fünfzig, also beileibe noch nicht zu alt für einen Neuanfang. Lennart würde ihm ein neues Glück von Herzen gönnen, doch er wusste nicht einmal, ob sein Vater sich, und wenn auch nur ganz insgeheim, nach so etwas sehnte.

Was ist denn nun schon wieder? Warum stehst du da jetzt schon so lange in der Gegend herum und sagst nichts und rührst dich nicht mehr? Sissy stieß ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen Bellen und Knurren lag, und legte, als Lennart sich ihr zuwandte, den Kopf ein wenig schräg. Nun sag schon, Herrchen, was ist los mit dir?

Lennart schmunzelte. »Du willst wohl, dass ich mich mit dem Aufräumen ein bisschen beeile, was?«

Äh, nein, eigentlich nicht. Von mir aus kannst du sofort ganz damit aufhören, denn ich sehe sowieso keinen Sinn darin.

Lennart sah sich in der geräumigen Einliegerwohnung um, die sich in seinem Elternhaus befand. Im Erdgeschoss lag die Wohnung seines Vaters, das Obergeschoss wurde von Lena bewohnt. Sie hatten das Haus gemeinsam aus- und umgebaut, als die beiden Geschwister das Erwachsenenalter erreicht hatten. So waren drei vollkommen ausreichend große Wohnbereiche entstanden, in denen jedes Mitglied der Familie ein eigenes, in sich abgeschlossenes Reich besaß und dennoch nicht weit von den anderen entfernt war. Da sie alle drei Singles waren, war dies in ihrer aller Augen die sinnvollste Lösung. Allerdings hatten sie auch schon weitergedacht und besprochen, dass, sollten Lena oder Lennart oder beide einmal jemanden kennenlernen und eine Familie gründen, die jeweils leer werdende Wohnung vermietet werden könnte. Lennarts Vater war mit dieser Lösung einverstanden gewesen, denn auf diese Weise behielt er selbst dauerhaft sein gewohntes Reich, würde darüber hinaus aber auch immer Gesellschaft in unmittelbarer Nähe haben. Vielleicht sogar in höherem Alter einmal eine Haushaltshilfe oder dergleichen. Doch an so etwas war natürlich im Augenblick noch lange nicht zu denken. Arndt Overbeck war ein gesunder, kräftiger und sportlicher Mann, der vor Energie geradezu sprühte und diese wohl auch auf die eine oder andere Weise an seine beiden Kinder vererbt hatte.

Im Grunde, so kam Lennart wieder auf seinen vorherigen Gedanken zurück, war es vollkommen verrückt und nicht nachvollziehbar, dass sein Vater den Rest seines Lebens als Single verbringen sollte. Natürlich fielen passende Frauen nicht mal eben so vom Himmel, doch vielleicht sollte er seinen Vater öfter einmal ermutigen auszugehen oder sich doch zumindest mehr den verschiedenen Aktivitäten der Vereine anzuschließen, in denen er Mitglied war. Sportverein, Sportschützen und sogar der Karnevalsverein boten doch sicherlich genügend Gelegenheiten, unter Menschen zu kommen. Meist hatte Arndt Overbeck sich in dieser Hinsicht mehr dem rein sportlichen Aspekt gewidmet oder, im Falle des Karnevalsvereins, regelmäßige Spenden getätigt. Doch was sprach dagegen, ihn zu ermutigen, sich zukünftig auch der geselligen Seite der Vereine mehr zu widmen?

Lennart war ebenfalls Mitglied im Sportverein und bei den Sportschützen, wobei er Letztere schon seit einer Weile ebenfalls sträflich vernachlässigte. Als Jugendlicher hatte er Spaß daran gehabt, dieses Hobby mit seinem Vater zusammen auszuüben, ebenso wie seine Schwester. Doch inzwischen hatte diese Begeisterung sehr nachgelassen und neuen Interessen Platz gemacht. Auch den Sportverein nutzte er mehr zur körperlichen Ertüchtigung, denn zur Pflege von Freundschaften, obgleich er natürlich einige gute Bekannte dort hatte. Er spielte Eishockey und war auch eine Zeit lang im American Football-Team gewesen. Mittlerweile konzentrierte er sich jedoch nur noch eine Sportart und half auch immer mal wieder beim Training des Junior-Eishockeyteams aus. Er mochte den Teamsport, war jedoch, das musste er zugeben, ebenfalls nicht der gesellige Typ, der sich auf jedem Sportfest oder Tag der offenen Tür unter die Menge mischen wollte. Deshalb hatte er sich in dem kleinen Raum, der ihm in seiner Wohnung als Büro diente, Hantelbank und Rudergerät aufgestellt, um jederzeit ungestört und für sich trainieren zu können.

Es würde also wahrscheinlich nicht ganz so einfach werden, seinen Vater davon zu überzeugen, sich mehr in Gesellschaft zu begeben, wenn er selbst nicht allzu scharf darauf war und demnach kein Vorbild sein konnte. Aber einen Versuch war es vielleicht wert, und eventuell hatte ja auch Lena eine Idee, wie sie ihrem Vater zu einem etwas erfüllteren Privatleben verhelfen könnten.

Seine eingehende Musterung der Umgebung brachte ihn zu dem Schluss, dass es für heute Abend mit dem Aufräumen genug sein durfte. Allerdings fiel dabei sein Blick auf den Korb mit der Bügelwäsche, den er auf dem Sofa abgestellt hatte, und er seufzte abgrundtief. »Tja, Sissy, ich schätze, mit dem Aufräumen bin ich fertig.«

Oh, sehr gut! Dann können wir ja endlich zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Sissy sprang auf und wedelte begeistert mit der Rute.

»Wenn ich allerdings ab übermorgen gebügelte Hemden tragen will, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als noch rasch das Bügeleisen anzuschmeißen.«

Das Bügeleisen? Ist nicht dein Ernst! Ich dachte, wir spielen und kuscheln jetzt. Sissy ließ sich geräuschvoll wieder auf ihr Hinterteil plumpsen und brummelte ungehalten vor sich hin.

»Ja, ich weiß«, antwortete Lennart achselzuckend. »Aber es nützt ja nichts.« Er trug zwar zur Arbeit so gut wie nie Anzüge, jedoch brauchten auch seine legeren Freizeithemden, ebenso wie seine T-Shirts, die er leider versehentlich zu lange im Trockner gelassen hatte, eine Bearbeitung auf dem Bügelbrett. Selbiges zog deshalb rasch aus dem kleinen Wandschrank neben dem Durchgang zur Küche, klappte es auf und stellte es mitten ins Wohnzimmer. Er wollte gerade das Bügeleisen aus dem Schrank nehmen, als sein Handy klingelte. Überrascht blickte er auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es bereits kurz vor zehn war. Normalerweise rief um diese Zeit niemand mehr bei ihm an außer Lena, wenn sie ein Problem im Haushalt hatte, das sie alleine nicht lösen konnte. Denn so gut sie sich auch mit Computern und Software auskannte, so wenig Talent besaß sie in allen handwerklichen Dingen sowie in der Küche. Also ließ er das Bügeleisen im Schrank und eilte hinüber ins Wohnzimmer, wo sein Handy auf dem Couchtisch lag. Er hatte bereits eine liebevoll-spöttische Bemerkung auf den Lippen, als er zu seiner grenzenlosen Überraschung auf dem Display nicht den Namen und das Foto seiner Schwester erblickte. Sein Herz machte einen Satz, in seinem Magen bildete sich jedoch ein flaues Gefühl. Eilig nahm er das Gespräch an. »Melissa? Guten Abend.«

»Ja, äh, guten Abend.« Melissa Stimme klang nervös. »Entschuldige bitte, dass ich dich so spät anrufe, das ist sonst nicht meine Art. Aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich habe es erst bei Jana versucht, aber sie geht nicht an ihr Handy, und Oliver hat gesagt, dass er noch vor einer halben Stunde mit ihr gesprochen hat und sie immer noch in ihrer Werkstatt arbeitet und nicht gestört werden will. Er ist mit Scottie noch unterwegs bei einem Arbeitseinsatz – eine Observierung wohl oder so etwas. Und von Ellie weiß ich, dass sie montagabends immer Meisterschule hat und danach noch mit Kolleginnen ausgeht. Da möchte ich sie natürlich auch nicht stören …« Ihre Worte überschlugen sich fast und es war zu vernehmen, dass sie unregelmäßig atmete.

»Schon gut, schon gut.« Das flaue Gefühl verstärkte sich noch. »Atme erst einmal tief durch.« Lennart bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. »Was ist passiert?«

»Nichts.« Melissa schien tatsächlich zu versuchen, ruhiger zu atmen. »Also doch, schon, ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube, da draußen ist jemand.«

»Draußen?« Alarmiert spannte Lennart sich an. »Wo? Vor deinem Haus?«

»Ja, nein, also eher hinter dem Haus. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe vorhin, also, bevor ich Andy ins Bett gebracht habe, schon einmal gedacht, dass ich draußen im Garten eine Bewegung gesehen hätte. Aber als ich das Licht angemacht habe, war niemand da. Dann ist ein Auto in den Waldweg gefahren. Andy hat es gehört, und ich habe die Spuren entdeckt, aber nichts und niemanden gesehen. Und eben dachte ich, ich würde wieder ein Auto hören, und dann war draußen wieder so eine Bewegung … Ich kann nicht mal die Jalousien zumachen, weil sie kaputt sind!« Ihre Worte begannen sich erneut zu überschlagen.

»Ganz ruhig, Melissa.« Lennart war bereits auf den Weg in die kleine Diele, wo sich seine Garderobe befand, und griff nach seiner Lederjacke. »Ich bin sofort bei dir. Es dauert nur ein paar Minuten, okay?«

»Nein, ja, also danke. Du brauchst nicht extra …«

»Red keinen Quatsch«, unterbrach er sie knapp. »Du hast wohl kaum aus Spaß an der Freude hier angerufen. Ich mache mich sofort mit Sissy auf den Weg.«

Wie? Mit mir? Was haben wir denn jetzt noch vor? Sissy sprang auf und kam freudig in die Diele geschwänzelt.

»Okay.« Die Erleichterung, die Melissa Stimme anzuhören war, alarmierte Lennart noch mehr. So, wie er sie bisher kennengelernt hatte, musste es sie unglaubliche Überwindung gekostet haben, ihn um Hilfe zu bitten – ausgerechnet ihn.

»Ist mit Andy alles in Ordnung?«, hakte er nach, während er in die Jacke schlüpfte.

»Ja, er schläft.«

»Gut. Ich bin auf dem Weg. Sollen wir weiter telefonieren, bis ich bei dir bin?«

»Was?« Sie klang verblüfft. »Ich, also, ich weiß nicht …«

»Bleib einfach am Handy. Wenn etwas sein sollte, kannst du es mir sofort sagen.« Er schaltete den Lautsprecher an seinem Handy ein, legte es auf das kleine Schränkchen neben der Garderobe und schnappte sich Sissys Geschirr und Leine. »Komm her, Süße«, sprach er die Hündin an. »Wir machen noch einen kleinen Ausflug.«

Wirklich? Wau ja, das klingt toll! Auf jeden Fall tausendmal besser als aufräumen oder dieses blöde Bügelbrett. Begeistert sprang Sissy an ihm hoch, sodass er sie erst einmal beruhigen musste, damit er ihr das Geschirr überstreifen konnte. Er schnappte sich seinen Schlüsselbund und das Mobiltelefon und machte sich auf den Weg.

Schon als er das Haus verließ, fuhr ihn eine eisige Windbö an, gleich darauf traf ihn prasselnder Regen, durchmischt mit nadelscharfem Graupel. Für einen kurzen Moment war er versucht, kehrtzumachen und sich eine passendere Jacke zu holen, entschied sich jedoch dagegen. Im Auto war es schließlich trocken, bei Melissa im Haus sowieso. Glücklicherweise war Sissy so gut an ihre Box in seinem Kofferraum gewöhnt, dass sie eifrig hineinsprang, kaum dass er sie geöffnet hatte.

»Fahr bloß vorsichtig«, kam Melissas Stimme aus seinem Smartphone, nachdem er sich hinters Steuer geklemmt und das Gerät auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte. »Bestimmt sind die Straßen glatt.«

Das waren sie tatsächlich, doch glücklicherweise war es bis zu Melissas Haus nicht allzu weit, und auf den geschotterten Wegen der Ferienhaussiedlung war die dünne Eisschicht, die sich auf den Fahrbahnen gebildet hatte, nicht so sehr zu bemerken. Es dauerte tatsächlich nur wenige Minuten, bis er den Zuweg zum Blockhaus erreicht hatte. Er hielt jedoch an der Einmündung und stellte den Motor aus. Auch das Licht löschte er. »Ich bin fast da«, sagte er in Richtung Smartphone. »Wo genau hast du die verdächtigen Bewegungen bemerkt?«

»Einmal durch das Küchenfenster zum Fahrweg hin, und dann war da noch so etwas wie ein Lichtschein hinter dem Gartenzaun, wie von einer Taschenlampe. Ganz sicher bin ich mir aber nicht, weil die Büsche ja die Sicht einschränken.« Sie sog hörbar die Luft ein. »Was hast du denn jetzt vor?«

»Ich sehe mich unauffällig ein bisschen um.« Er nahm das Handy in die Hand und stieg leise aus dem Auto aus.

Hey, Herrchen, wo willst du hin? Nimmst du mich mit? Sissy wuffte leise in ihrer Box.

»Psst! Ganz leise, Sissy«, raunte Lennart der Hündin zu, bevor er die Fahrertür schloss, und konstatierte erleichtert, dass die Hündin verstanden zu haben schien. Sie gab keinen Mucks mehr von sich. Er verzichtete darauf, seine Taschenlampe aus dem Kofferraum zu nehmen, sondern verließ sich auf seinen Orientierungssinn und darauf, dass sich seine Augen bald an die Dunkelheit gewöhnt haben würden.

Glücklicherweise hatte der Regen inzwischen nachgelassen, der Graupel jedoch nicht. Zumindest wurde er davon nicht nass. Langsam und bemüht, möglichst kein Geräusch zu machen, ging er den breiten geschotterten Fahrweg entlang, der auf Melissas Blockhaus zuführte. Da es hinter einer Biegung lag, war es von hier aus nicht zu erkennen, er meinte jedoch, einen Lichtschein wahrzunehmen. Vermutlich hatte sie die Außenbeleuchtung eingeschaltet, was in ihrer Situation nur allzu verständlich war. Möglicherweise hatte sie etwaige Herumtreiber damit bereits in die Flucht geschlagen.

Besorgt machte ihn, dass sie erwähnt hatte, am früheren Abend schon einmal jemanden bemerkt zu haben. Es war also gut möglich, dass besagte Person später zurückgekehrt war, und das ließ darauf schließen, dass es sich um jemanden handelte, der sie womöglich schon länger beobachtete.

Nach knapp hundert Metern blieb er stehen. Nun war das Licht, das vom Blockhaus ausging, durch die Bäume deutlich zu erkennen. Er lauschte angestrengt, doch es war nur das Rauschen des kräftigen Windes in den kahlen Baumwipfeln zu vernehmen. Rasch schaltete er den Lautsprecher aus und hielt sich das Mobiltelefon ans Ohr. »Auf dem Fahrweg ist nichts zu erkennen«, sagte er leise ins Smartphone. »Hier links geht ein schmaler Pfad ab, weißt du, wohin der führt?«

»Nein, nicht genau.« Melissa klang atemlos. »Ich weiß nur, dass der Weg, der kurz vor dem Haus rechts abgeht, zum Sternbach-Resort führt. Wir hatten noch keine Zeit, die ganzen Waldwege zu erkunden.«

»Okay, dann finde ich es heraus.« Er fluchte innerlich, weil er in seinem Eifer, Melissa zu Hilfe zu eilen, nicht daran gedacht hatte, sich festes Schuhwerk anzuziehen. Die grauen Sneakers, die er trug, waren für die von Matsch und Eis bedeckten Waldwege alles andere als geeignet. Dennoch ging er entschlossen ein Stück den Pfad entlang, bis er auf eine Weggabelung stieß. Nach links führte der Weg offenbar noch tiefer in den Wald hinein, rechts seiner Einschätzung nach in einiger Entfernung am Blockhaus vorbei. Er wählte den rechten Weg und stellte fest, dass er tatsächlich seitlich vom Blockhaus in die Lichtung einmündete, auf der es erbaut worden war. Dort blieb er erneut stehen und sah sich aufmerksam und eingehend um. Bis zum Haus waren es von hier aus noch etwa zwanzig Meter über die Lichtung. Der stürmische Wind rüttelte und raschelte in Büschen und Baumwipfeln und übertönte jegliche anderen Geräusche. Einmal hatte er ganz kurz den Eindruck, an der Baumgrenze auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung ein Licht aufblitzen zu sehen, doch als er genau hinsah, war nichts mehr zu erkennen.

Ärger stieg in ihm auf, denn so etwas ging ihm dermaßen gegen den Strich, dass er diesem Mistkerl von einem Exmann gerne einmal persönlich die Meinung gegeigt hätte. Da der Graupelschauer einfach nicht nachlassen wollte und sich nun immer mehr Schneeflocken mit in den Niederschlag mischten, beschloss er schließlich, den Rückweg anzutreten. Er nahm jedoch nicht denselben Pfad zurück, sondern ging am Rand der Lichtung entlang zum Fahrweg und lief darauf im Laufschritt zu seinem Auto zurück.

Weihnachtszauber und Hundepfoten

Petra Schier

HarperColins, 510 Seiten
Erscheint am 26.09.2023
ISBN 978-3-74990-608-6
12,- € / eBook 9,99 €

Hörbuch

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