Mit Schrecken habe ich festgestellt, dass ich euch seit einer halben Ewigkeit keinen Textschnipsel mehr kredenzt habe. Da ich in wenigen Tagen meinen nächsten Lichterhaven-Roman Nur eine Fellnase vom Glück entfernt ins Lektorat entlassen werde, fand ich, dass der Zeitpunkt gerade perfekt passt, um diesen Zustand zu ändern. Insbesondere, weil ich beim Überarbeiten gerade über eine richtig schöne und witzige Szene gestolpert bin. Ich wünsche euch gute Unterhaltung!

Aus dem 8. Kapitel

Henning genoss das angenehme Schweigen, das sich erneut zwischen ihnen einstellte, während sie den noch etwa zehnminütigen Weg bis zur Piratenbucht zurücklegten. Vom Deichweg aus war sie so aus der Nähe nicht einzusehen. Lediglich eine große Felsnase ragte mitten in den Deich hinein und teilte ihn praktisch in der Mitte. Vor dem Fels führte landseitig eine Treppe hinab und hinter ihm wieder hinauf; seeseitig gab es ebenfalls Stufen, die bis hinunter ins Watt führten. Die Bucht war ausschließlich bei Ebbe erreichbar. Der schmale Grasstreifen, der direkt am Fels vorbei führte, wurde von der Flut oft überschwemmt und es war zu gefährlich, ihn dann zu benutzen.

»Sollen wir es versuchen?« Henning blieb bei den Stufen stehen. »Was meinst du, Duke? Traust du dich die Treppe hinunter? Das Wasser hat sich schon weit zurückgezogen. Du kriegst also höchstens nasse Pfoten.«

Die Treppe da? Misstrauisch schnupperte Duke an der obersten Stufe, dann setzte er sich hin. Warum soll ich denn da runtergehen? Das gefällt mir überhaupt nicht.

»Siehst du, er hat Angst.« Caroline war neben Duke stehen geblieben.

»Ach was, er überlegt doch nur.« Grinsend tätschelte Henning den Hals des Rottweilers.

Und wie ich nachdenke! Ich frage mich gerade, was in euch gefahren ist. Ihr wollt doch nicht etwa wirklich mit mir da runter ins nasse, matschige Watt, oder?

»Und wie willst du ihn überzeugen, die Treppe hinunterzugehen?« Skeptisch blickte Caroline von Duke zu Henning.

»Keine Ahnung.« Er fuhr sich durch sein vom Wind leicht zerzaustes Haar. »Geh doch mal voran, und wenn du unten angekommen bist, lockst du ihn zu dir.«

»Das soll funktionieren?« Obwohl sie vom Erfolg des Vorschlags alles andere als überzeugt war, streifte sie Schuhe und Socken ab und krempelte ihre Jeans ein wenig hoch. Dann stieg sie vorsichtig nach unten. »Die Stufen sind ganz schön glitschig. Und kalt.«

Henning sah ihr lächelnd zu und streifte ebenfalls Schuhe und Socken ab. »Der Sommer hat ja auch gerade erst angefangen. Das echte Badewetter kommt erst noch.«

Äh, hallo? Was macht ihr denn da?

»Duke!« Im Watt angekommen klatschte Caroline in die Hände, um die Aufmerksamkeit des Rottweilers zu erlangen. »Komm, hierher, zu mir!«

Was? Wirklich da runter? Nö. Duke blieb einfach sitzen.

»Komm, hier unten ist es toll.«

Du kannst mir viel erzählen.

»Na komm, Duke!« Caroline hob in einer resignierenden Geste beide Hände. »Ich hab doch gewusst, dass das nicht klappt.«

»Du gibst viel zu schnell auf.« Henning befestigte die Schleppleine an Dukes Geschirr. »Versuch es weiter. Mach dich so richtig interessant.«

»Du klingst schon wie Christina.« Sichtlich erheitert klatschte Caroline erneut in die Hände. »Duke!«

Ja? Duke spitzte die Ohren.

»Guck mal, hier unten ist es total toll. Und sooo interessant.« Diesmal verstellte Caroline ihre Stimme ein wenig, sodass sie aufgeregt und zugleich geheimnisvoll klang.

Henning lächelte in sich hinein, kämpfte aber gleichzeitig gegen die startenden und landenden Flugzeuge in seinem Bauch an, die es ihm zunehmend schwermachten, sich auf Duke zu konzentrieren. Caroline sah einfach zu süß aus, wie sie barfuß und mit leicht zerzausten Haar im Watt stand. Der Wind ließ ihre hellblaue Bluse ein wenig flattern, sodass er hin und wieder einen kurzen Blick auf die Träger ihres weißen BHs erhaschen konnte. Ein Anblick, der seinen Puls deutlich ansteigen ließ.

»Du könntest da oben eigentlich auch ein bisschen mithelfen, Mr. Schlaumeier.«

Ihre freche Aufforderung riss ihn aus seinen Gedanken. »Okay, okay. Also los, Duke, komm mal mit.« Er fasste die Schleppleine kurz und versuchte, Duke dazu zu bewegen, mit ihm die Treppe hinabzusteigen. Der Rottweiler blieb jedoch einfach sitzen.

Vergiss es. Macht ihr ruhig, was ihr wollt, aber ich bleibe hier.

»Na los, es ist gar nicht schwer. Und guck doch mal, was Caroline da macht. Das ist total spannend!«

Bei seinen Worten wandte sie sich halb ab und tat, als habe sie etwas wahnsinnig Interessantes gefunden. »Ja, hier, Duke, guck, ein Krebs und Muscheln und hier, oh, das ist noch viel toller!« Sie trillerte die Worte geradezu und reizte Henning damit zum Lachen.

Duke wedelte unsicher mit der Rute. Was ist denn jetzt auf einmal mit euch los? Ihr benehmt euch so komisch. Ob es da wirklich etwas so Interessantes zu entdecken gibt? Er stand auf und trippelte ein wenig auf der Stelle.

»Ja, super, weiter so, Caro!« Henning gab ihr ein Daumen hoch. »So schaffen wir es.«

Was schaffen wir so?

»Du hast gut reden. Du machst dich hier ja nicht gerade zum Affen.«

»Also wenn, dann doch wohl zur Äffin.« Er grinste ihr zu. »Sonst nimmst du es doch auch so genau.«

»Klugscheißer.« Ehe er sich versah, hatte sie sich gebückt und eine Handvoll Schlick gegriffen und warf sie in seine Richtung. Das matschige Geschoss landete auf der obersten Treppenstufe.

Verblüfft starrte er sie an. »Was sollte das denn?«

»Die nächste Ladung trifft.« Ihre Augen funkelten zugleich erheitert und herausfordernd. »Also red keinen Stuss, sondern lass dir was Besseres einfallen, um Duke hier herunterzubringen. Ich habe heute auch noch was andere vor.«

»So, was denn?«

»Das geht dich nichts an.«

Er versuchte, das flaue Gefühl der Enttäuschung zu verdrängen. »Schon gut. Also noch mal.« Diesmal ließ er die Schleppleine auf den Boden fallen und behielt nur noch die Griffschlaufe in der Hand. Dann ging er einfach an Duke vorbei nach unten und stellte sich neben Caroline. »Hey Duke, was ist? Gesellst du dich zu uns?« Abwartend blickte Henning zu dem Hund hoch, der sich aber immer noch nicht rührte.

Nö, ich glaube nicht. Hier oben ist es sicherer. Wer weiß, was da unten im Watt alles lauert.

Caroline schnaubte spöttisch. »So viel zum Thema sich interessant machen. Dabei bist du doch der Experte auf diesem Gebiet. Dachte ich zumindest immer.«

»Nun warte es doch ab. Ich habe noch gar nicht richtig losgelegt.« Henning warf ihr einen bedeutsamen Blick zu. Dann wandte er sich wieder an Duke. »Hopp, los, mein Freund. Hier unten spielt die Musik.« Er ruckelte an der Leine, sodass sie ein paar leichte Wellenbewegungen auf der Treppe machte. Da sie etwa zehn Meter lang war, spürte Duke davon kaum etwas. Er beobachtete jedoch genau, was Henning tat.

Äh, tja, und was soll das jetzt? Ich habe keine Ahnung von Musik. Aber das Geflatter der Leine sieht lustig aus.

»Ja, genau, guck mal. Die Leine will mit dir spielen.« Erneut ruckelte Henning ein wenig mit der Handschlaufe.

Caroline hüstelte. »Die Leine will mit Duke spielen?«

Henning winkte ab. »Verdirbt mir nicht meine Strategie. Hier, schau, Duke, das macht Spaß.«

Er hüpfte ein wenig auf und ab. »Du auch, Caro. Wir müssen das schon im Team angehen. Das hast du eben selbst gesagt.«

»Okay.« Obwohl sie kurz die Stirn runzelte, fiel sie in das Hüpfen mit ein und trillerte wieder etwas davon, wie spannend es im Watt sei.

Hey, wau, das ist jetzt aber wirklich spaßig. Ich hätte nie gedacht, dass unser Spaziergang so unterhaltsam werden würde. Duke stand heftig mit der Rute wedelnd auf der obersten Stufe und sah aufmerksam zu ihnen hinab. Was lasst ihr euch denn noch alles für mich einfallen?

»Wenn wir so weitermachen, lacht er uns gleich aus.« Kopfschüttelnd hielt Caroline in ihren Bemühungen inne. »Warte mal.« Entschlossen stieg sie die Treppe wieder hinauf. »Vielleicht braucht er einfach nur eine klare Ansage.« Als sie Duke erreicht hatte, griff sie nach der Leine und straffte die Schultern. »Los, komm, Duke. Wir gehen jetzt da runter!« Ohne auf irgendeine Reaktion des Rottweilers zu warten, ging sie einfach los.

Sobald sich die Leine straffte, folgte Duke ihr. Huch, damit habe ich jetzt aber nicht gerechnet. Willst du echt, dass ich mitkommen? Na gut, aber ich muss dir leider sagen, dass mir das gar nicht gefällt. Da unten riecht es so seltsam und ich kann noch immer das Wasser sehen. Und diesen matschigen Boden; der ist mir auch nicht geheuer.

»Siehst du, so geht das«, rief Caroline Henning triumphierend zu. »Man muss ihm nur zeigen, wer das Sagen hat. Nicht wahr, Duke?«

Ja, also … Wenn du meinst. Aber ich wusste auch vorher schon, dass ich auf dich hören muss. Ich bin schließlich gut erzogen. Der ist das überhaupt keine Frage. Es ist nur so …

»Ganz toll machst du das, Duke!«, lobte Caroline. »Gleich sind wir unten.«

Kann sein. Aber genau das ist das Problem.

»Hopp, noch zwei Stufen. Noch eine …«

Ja, genau, nur noch eine, bevor dieses komisch riechende Watt anfängt. Duke blieb stehen.

Caroline war bereits wieder auf dem Watt angelangt und drehte sich zu dem Hund um. »Komm. Wir haben es doch geschafft.«

»Fast«, fügte Henning feixend hinzu. Er hatte den Rottweiler genau beobachtet und sofort den Moment erkannt, in dem Duke beschlossen hatte, dass er nicht mehr weitergehen würde. »Ich glaube, das war’s erst mal.«

Du hast es erfasst.

»Quatsch. Ist doch nur noch eine Stufe!« Caroline machte wieder einen Schritt auf Duke zu. »Komm, Süßer, du wirst doch nicht kurz vor dem Ziel kneifen.«

Doch genau das habe ich vor.

»Lass es mich noch mal versuchen.« Henning ging vor Duke in die Hocke. »Schau mal, Kumpel, das ist nur Schlick. Total ungefährlich.« Er fuhr mit dem Finger über den Boden und ließ Duke dann daran schnüffeln.

Das behauptest du. Duke schnaubte. Aber so von Nahem sieht es hier tatsächlich nicht allzu gefährlich aus. Mit Christina war ich mal auf einem Hundestrand, da fand ich es viel unheimlicher, weil … Tja, also im Moment erinnere ich mich gar nicht mehr so genau, was mir da Angst gemacht hat. An dem einen Tag war das große Wasser da. Das fand ich ziemlich gruselig, weil ich nicht gerne schwimme. Herrchen hat das mal mit mir ausprobiert, aber ich fand es nicht gut. Man wird ganz nass und hat keinen Boden mehr unter den Füßen. Das ist nichts für mich. Na ja, hier stehe ich ja ganz sicher und ihr seid mit den Füßen auch nicht im Wasser.

Als Duke erneut an Hennings Finger schnüffelte, zog dieser seine Hand ganz langsam zurück, sodass der Hals des Hundes immer länger wurde. »Hast du vielleicht ein Leckerchen dabei?« Nur ganz kurz blickte Henning über die Schulter zu Caroline. »Damit können wir ihn vielleicht locken.«

Nee, könnt ihr nicht. Ich bin nicht bestechlich.

»Ich habe hier nur einen von den Mini-Kauknochen, die Ella immer für Barnabas kauft.« Caroline zog ein Papiertütchen aus der Hosentasche. »Den wollte ich Duke heute zum Abschied geben.«

»Gib mal her.« Fordernd streckte Henning seine Hand aus. Caroline reichte ihm den gerade daumenlangen Kauknochen, und er musterte ihn stirnrunzelnd. »Was ist denn das für ein Zwergending? Das ist ja nicht mehr als die Füllung für den hohlen Zahn.«

»Nun beschwer dich auch noch! Sei froh, dass ich überhaupt etwas dabei habe.« Caroline verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht hättest du mal besser vorher daran gedacht, Bestechungs-Leckerchen mitzunehmen.«

Da sie recht hatte, ging er nicht weiter darauf ein, sondern konzentrierte sich wieder ganz auf den skeptisch dreinblickenden Rottweiler. »Guck mal, Duke, was ich hier habe.« Gerade außerhalb von Dukes Reichweite hielt er ihn den kleinen Kauknochen vor die Nase.

Was ist denn das? Riecht gut. Hm, ein Leckerchen. Gib mal her!

»Willst du das haben?« Henning zog die Hand noch ein wenig weiter zurück; Dukes Hals wurde immer länger und er fuhr sich mehrmals mit der Zunge über die Schnauze.

Jahaaa, natürlich will ich das haben. Gib schon!

»Komm, hol es dir!« Mit einem Grinsen in Carolines Richtung erhob Henning sich und zog ganz langsam die Hand immer weiter zurück. »Hmm, das ist ein gaaanz tolles Leckerchen, Duke. Sooo leeecker. Komm, hol es dir. Hier ist es.«
Au ja, das will ich unbedingt haaaben! Wuff. Duke reckte den Hals, bis er fast das Gleichgewicht auf der Stufe verlor. Nun gib schon her, das ist gemein! Ach, was soll’s.

Als Henning einen weiteren Schritt rückwärts machte, folgte Duke ihm ins Watt, die Nase dicht an dem winzigen Kauknochen. Henning hielt die Luft an, doch als er noch einen Schritt rückwärts machte, kam Duke einfach mit. Seine Pfoten platschten in einer Pfütze.

Hey, was ist denn nun? Kriege ich das Leckerchen jetzt bald mal?

»Komm, braver Hund, super, noch ein paar Schritte weiter. Nur, damit du merkst, dass das Watt gar nicht schlimm ist.«

Das Watt ist mir egal. Ich will das Leckerchen! Jetzt gib schon endlich her! Duke machte einen Satz auf Henning zu und sprang ihm an.

»He! Was … Verdammt!« Mit einem entsetzten Laut versuchte Henning, das Gleichgewicht zu halten, doch da war es bereits zu spät. Er verlor das Gleichgewicht und kippte hinten über. Im nächsten Moment fiel er unsanft der Länge nach auf den Rücken. Wasser und Schlick spritzten nach allen Seiten; Duke landete voll auf ihm und haschte nach dem Kauknochen.

Mit Vollgas ins Glück

Rüde Duke versteht die Welt nicht mehr. Sein Herrchen hat ihn einfach nicht wieder abgeholt, aus der Hundepension. Jetzt soll er mit zwei fremden Menschen spazierengehen, zwischen denen eine komische Spannung herrscht. Das macht ihm Angst. Doch je besser Duke Henning und Caroline kennenlernt, desto spannender findet er, was da zwischen ihnen brodelt, und er wünscht sich mit jedem Spaziergang mehr, dass sie drei ein unzertrennliches Team werden.

Nur eine Fellnase vom Glück entfernt

Petra Schier

HarperCollins

Erscheint am 22.03.2022

Taschenbuch, ca. 380 Seiten
ISBN 978-3-749903-84-9
11,00 € / eBook  8,99 €

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