Mir ist irgendwie gerade sehr nach einem neuen Textschnipsel für euch. Neulich habt ihr wieder einen aus der Bastardtochter bekommen, jetzt ist mein neuer Weihnachtsroman an der Reihe. Diesmal aber nicht ganz chronologisch, wie sonst üblich. Ihr erinnert euch sicher noch an den Christmas in July-Textschnipsel samt Video und “Bedienungsanleitung”, den ich aus der Mitte des Mansukripts (ungefähr jedenfalls) entnommen habe. Jetzt machen wir einen kleinen Zeitsprung in die Vergangenheit. Aber nur ein kleines bisschen.

Bitte sehr, viel Spaß!

»Du meine Güte, Walter, wie siehst du denn aus?« Halb lachend, halb kopfschüttelnd ging Noah Silberberg auf einen schmalen älteren Mann mit dichten Bartstoppeln an Kinn und Wangen zu, der den ausrangierten Einkaufswagen mit seiner Habe gerade durch die Tür der Sozialstation schob. Zielsicher steuerte er auf einen der hinteren Tische im Aufenthaltsraum zu. Er trug eine lange blaue Zipfelmütze zu einem viel zu großen Mantel in derselben Farbe. Beides war triefnass. »Wo hast du denn die Sachen schon wieder her?«
»Aus’m Theater. Also aus’m Container mit den alten Kostümen. Sieht gut aus, wa?« Walter grinste breit und zeigte dabei eine schlecht sitzende Gebissprothese.
»Die Sachen sind klatschnass. Du erkältest dich doch. Gib mal her, ich werfe alles rasch in den Trockner.«
»Hab aber nix anderes. S’regnet ziemlich un‘ der Container war offen. Is alles nass geworden. Meine Sachen drunter auch.«
»Dann suchen wir dir was zum Wechseln. Komm mit nach hinten. Arthur? Komm mal kurz. Ich brauch Klamotten für Walter.«
»Einen Moment« Arthur Mondoli, halb Senegalese und halb Italiener mit milchkaf-feebrauner Haut, rabenschwarzem Haar und ebensolchen, intelligent blitzenden Augen kam aus seinem Büro und erfasste die Situation mit einem Blick. »Bin schon unterwegs. Du liebe Zeit, Walter, da hast du aber schicke Fetzen abgesahnt.«
»Ja, wa? Seh jetzt aus wie so‘n Schlumpf. Kann mich dann auch keiner verwech-seln.«
»Wer würde dich wohl verwechseln, Walter?« Noah klopfte dem Obdachlosen auf die Schulter und führte ihn in einen der hinteren Räume. Arthur brachte trockene Kleider und nahm die nassen gleich mit in die Waschküche.
»Was is’n mit mei’m Wagen? Nich, dat den jemand klaut.«
»Den klaut niemand, Walter, keine Sorge. Hier ist alles sicher.«
»Das sags‘ du. Mir is schon mal alles geklaut wor’n. Alles, sogar’s Haus unterm Hintern. Von so fiesen Bankleuten. Die sin‘ noch mal der Tod der Nation, sag ich dir, Noah. Has‘ du auch’n Konto bei den Verbrechern? Musste drauf achtgeben wie’n Schießhund, dat se dich nich auch nackich machen. Passiert schnell, sowas.«
»Ich weiß, Walter.« Obwohl Noah erst seit wenigen Wochen in der Sozialstation dieser kleinen, gemütlichen Stadt arbeitete, kannte er doch schon die meisten Geschich-ten und Schicksale, die sich hinter den Menschen verbargen, die er tagtäglich betreute. Er empfand es als seine Pflicht und Aufgabe, sie so gut wie möglich kennenzulernen, um sie bestens mit Rat, Tat und Hilfe zu versorgen. »Ich passe schon auf, dass man mich nicht bestiehlt. Was macht denn dein Fuß? Ist das Rheuma besser?«
»Ach, Rheuma. Blöde Zipperlein.«
»Soll ich dir noch mal einen Termin bei Dr. Benner machen? Er schaut sich das gerne noch mal an. Und wenn du Medikamente brauchst …«
»Würd’ste machen, Jung?«
»Selbstverständlich. Dazu bin ich schließlich hier.«
»Stimmt. Die bezahl’n dich dafür, dat du Wracks wie mir hilfs‘.«
»Du bist kein Wrack, Walter. Komm, lass uns wieder rüber in den Aufenthaltsraum gehen. Hast du schon was zu Abend gegessen? Ach, egal, du kriegst so oder so was. Wenn Bettina dich so durchweicht sieht, füttert sie dich gleich mit einer doppelten Portion ab.«
»Die Bettina is heut Abend hier? Nich die Clarissa?«
»Clarissa hat sich beim Glatteis neulich den Knöchel und den Oberschenkelhals gebrochen. Sie liegt im Krankenhaus und wird für eine Weile nicht kommen können.«
»O je, dat arme Fraumensch! Würd se ja gern besuchen, aber die lassen mich be-stimmt gar nich‘ rein ins Krankenhaus.« Bedeutsam blickte Walter an sich hinab und zuckte dann die Achseln. »Un jetzt muss die Bettina alles allein machen?«
»Nicht ganz allein, aber es ist schon viel Arbeit. Wir suchen noch nach einer Aushilfe.«
»Hoffentlich is die nett.«
»Bestimmt. Wir stellen nur nette Leute ein, Walter. Das weißt du doch.«
»Un hübsch soll se auch sein. Nix gegen die Clarissa, aber so was Junges, Knackiges …« Walter grinste breit. »Wär doch viel leckerer.«
»Du bist ein ganz schöner Schwerenöter!«
»Nee, nee, nich mehr. Früher mal. He, wie wär’s mit der da?« Walter deutete auf eine schlanke blonde Frau in braunem Mantel, einen bunten Schal locker um den Hals geschlungen, die gerade die Station betreten hatte und sich suchend umsah. »Die gefällt mir, die könnt ihr behalten.«
»Na, warte erst mal. Wir wissen doch gar nicht, was sie hier will.«
»Aber hübsch isse!«
Da konnte Noah nicht widersprechen.
»Geh se mal ansprechen!«
»Bin schon auf dem Weg, Walter.«
»Pah, viel zu langsam biste. Siehste, der Arthur war schneller. So wird dat nix mit euch.«
Amüsiert blickte Noah auf den schmalen Walter, der tadelnd den Kopf schüttelte. »Ich kenne die Frau doch gar nicht.«
»Ja, eben. Un so lahm, wie du bist, wird dat auch nix. Halt dich mal ran!«
»Walter, wir suchen nur eine Aushilfsköchin, keine Frau für mich. Kann ich auch überhaupt nicht brauchen.«
»Ha, da wärste aber der erste Mann auf Erden, der ne Frau nicht brauchen kann. Na ja, außer die Kerls, die lieber Männer mögen. Kommt ja vor. Gehörs‘ du aber nich‘ da-zu, oder?«
»Nein. Trotzdem …«
»Eben. Glaub mir, Jung, alleine alt werden is nich schön.«
»Lass das mal meine Sorge sein.«
»Ich sach ja, dat wird nix, wenn de so drauf bist.«

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Über Fragen, Kommentare, Anregungen usw. würde ich mich wie immer sehr freuen.

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Zum Vormerken:

Eine warme Küche und zwei Menschen, die ihn umsorgen – so stellt sich der kleine zerzauste Mischlingshund Amor das Glück vor! Als er eines kalten Winterabends in der städtischen Sozialstation auftaucht, lässt er sich von der schüchternen Lidia und dem Sozialarbeiter Noah das Ohr kraulen. Glücklich erkundet Amor darauf die Küche, schnüffelt an köstlichem Schokokuchen – und stibitzt Lidias Geldbeutel. Noah und Lidia versuchen ihn einzufangen und scheinen sich dabei sogar näherzukommen … Amor sieht seine Chance, die Liebe in ihr Leben zu bringen und ein echtes Zuhause zu finden. Doch werden seine Weihnachtswünsche wahr?
(Buchvorschautext, Quelle: MIRA Taschenbuch)

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Kleines Hundeherz sucht großes Glück
Petra Schier
MIRA Taschenbuch  Erscheint am 12. Oktober 2015
ISBN: 978-3956492426
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