Walther von der Vogelweide

© gnagi – stock.adobe.com

Walther von der Vogelweide

Geb. um 1170 (Geburtsort unbekannt); gest. um 1230, möglicherweise in Würzburg.
Er gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters. Überliefert sind 90 Lieder (Minnelieder) und 150 Sangsprüche.

Niedere bzw. ebene Minne

Unter der Linden

Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
Vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal

Ich kam gegangen
zuo der ouwe,
dô was mîn friedel komen ê.
Dâ wart ich enpfangen,
hêre frouwe,
daz ich bin sælic iemer mê.
Kuster mich? Wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht, wie rôt mir ist der munt.

Dô het er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
Des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
Bî den rôsen er wol mac,
tandaradei,
merken, wâ mirz houbet lac.

Daz er bî mir læge,
wessez iemen
(nû enwelle got!), sô schamt ich mich. Wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz, wan er und ich,
und ein kleinez vogellîn -
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.

In das Lied reinhören:

Interpret: Musica Antiqua Gernsbach
CD: Zeitsprung

Unter der Linde

Unter der Linde
an der Heide,
wo unser beider Bett war,
dort könnt ihr
sorgsam gepflückte
Blumen und Gras sehen.
In einem Tal am Waldrand,
tandaradei,
sang die Nachtigall lieblich.

Ich kam gegangen
zu der Au,
da war mein Liebster schon da.
Dort wurde ich empfangen,
edle Frau!*
(so) dass ich für immer glücklich bin.
Küsste er mich? Wohl tausendmal!
Tandaradei,
seht, wie rot mir der Mund davon ist.

Da hatte er aus Blumen
ein prächtiges Bett
vorbereitet.
Darüber wird jetzt noch
herzlich gelacht,
wenn jemand denselben Weg entlang kommt.
An den Rosen kann er wohl,
tandaradei,
erkennen, wo mein Haupt lag.

Dass er bei mir lag,
wüsste das jemand
(das wolle Gott nicht!), dann würde ich mich schämen.
Was er mit mir tat,
das soll nie jemand
erfahren, außer er und ich
und ein kleines Vöglein,
tandaradei,
das kann wohl verschwiegen sein.

*entweder Ausruf: „Bei der heiligen Muttergottes!“ oder “wie eine höfische Dame” oder auch: “Ich, eine höfische Dame!”)

Wol mich der stunde

(entstanden 1197)

Wol mich der stunde, daz ich sie erkande,
diu mir den lîp und den muot hât betwungen.
Sit deich die sinne sô gar an sie wande,
der sie mich hât mit ir güete verdrungen.
daz ich gescheiden von ir niht enkan,
daz hât ir schoene und ir güete gemachet,
und ir rôter munt, der so lieplichen lachet.

Ich hân den muot und die sinne gewendet
wohl an die reinen, die lieben, die guoten.
daz müez uns beiden wol werden volendet,
swes ich getar an ir huide gemuoten.
Swaz ich noch fröiden zer werlde ie gewan,
daz hat ir schoene und ir güete gemachet,
und ir rôter munt, der sô lieplichen lachet.

In das Lied reinhören ...

Interpret: eAm - Ensemble Alte Musik
CD: Pastime with good companie

Gesegnet sei die Stunde

 

Gesegnet sei die Stunde, da ich die kennenlernte,
die mir Leib und Seele bezwungen hat, seitdem meine Gedanken, die sie mir durch ihre Güte geraubt,
sich ihr zuwendeten.
Dass ich von ihr nicht loskommen kann,
daran ist ihre Schönheit und ihre Güte schuld und ihr roter Mund, der so freundlich lacht.

All mein Denken und Fühlen habe auf die Reine,
die Liebe, die Gute gerichtet.
Was ich immer von ihrer Güte verlangen darf,
möge für uns beide zu einem guten Ende führen.
Was ich je auf dieser Welt an Freuden erfuhr,
daran ist ihre Schönheit und ihre Güte schuld und ihr roter Mund, der so freundlich lacht.

Spruchdichtung

Ich saz ûf eime steine

 

Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine,
dar ûf satzte ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
mîn kinne und ein mîn wange.
Dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer werlte solte leben:
Deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der keinez niht verdurbe.
Diu zwei sind êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot;
das dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
Die wolte ich gerne in einen schrîn.
Jâ leider, desen mac niht sîn,
daz guot und werltlîch êre
und gotes hulde mêre
zesamen in ein herze komen.
Stîge unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
fride unde reht sint sêre wunt.
Diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.

Ich saß auf einem Steine

(Reichsklage)

Ich saß auf einem Stein
und schlug ein Bein über das andere.
Darauf setzte ich den Ellbogen.
Ich hatte mein Kinn und meine eine Wange
in meine Hand geschmiegt.
In dieser Stellung dachte ich angestrengt darüber nach,
wie man sich auf der Welt verhalten solle.
Ich konnte keinen Rat geben,
wie man drei Dinge erwürbe,
ohne dass eines von ihnen zugrunde ginge:
die ersten beiden sind Ehre und bewegliche Güter,
was einander oft schadet,
das dritte ist die Huld Gottes,
die noch mehr wert ist als die beiden.
Die alle hätte ich gerne in einem Schrein beisammen.
Ja leider, das ist unmöglich,
dass Vermögen und Ehre bei den Menschen
und dazu noch Gottes Huld
zusammen in ein Herz kommen könnten.
Stege und Wege dazu sind ihnen genommen,
denn die Untreue lauert im Hinterhalt
und die Gewalt zieht offen auf der Straße einher.
Friede und Recht sind schwer verletzt.
Die drei haben keinen Geleitschutz,
bevor diese beiden (Friede und Recht) gesunden.

Ich hôrte diu wazzer diezen

 

Ich hôrte diu wazzer diezen
und sach die vische fliezen;
ich sach, swaz in der werlte was,
walt, velt, loup, rôr unde gras.
Swaz fliuzet oder fliuget
oder bein zer erde biuget,
daz sach ich, unde sage iu daz:
deheinez lebet âne haz.
Daz wilt und daz gewürme,
die strîtent starke stürme,
alsô tuont die vogele under in,
wan daz si habent einen sin:
si wæren anders ze nihte,
si schüefen starc gerihte.
Si kiesent künege unde reht,
si setzent herren unde kneht.
Sô wê dir, tiuschiu zunge,
wie stât dîn ordenunge,
daz nû diu mugge ir künec hât,
und daz dîn êre alsô zergât!
Bekêrâ dich, bekêre!
Die zirkel sint ze hêre,
die armen künege dringent dich.
Philippe, setze den weisen ûf, und heiz si treten hinder sich.

Ich hörte die Wasser rauschen

(Weltklage)

Ich hörte die Wasser rauschen
und sah die Fische dahinschwimmen,
ich sah alles was in der Welt war:
Wald, Feld, Laub, Rohr und Gras.
Alles was schwimmt oder fliegt
oder Beine erdwärts biegt,
das sah ich und sage euch folgendes:
keines von denen lebt ohne Hass.
Das Wild und das Gewürm
fechten schwere Kämpfe aus,
ebenso tun es die Vögel untereinander;
nur in einer Hinsicht sind sie einer Meinung:
sie wären verloren,
wenn sie kein strenges Gerichtswesen einsetzten.
Sie wählen Könige und Rechtsordnung,
sie bestimmen, wer Herr und wer Knecht sein soll.
Deshalb wehe denen die deutsch sprechen!
Wie steht es bei denen um die Ordnung!
Wo doch sogar jede Mücke ihren König hat,
zerrint deine Ehre derart.
Bekehre dich, bekehre dich.
jene mit den Kronreifen sind zu stolz/übermächtig
und die armen Könige bedrängen dich.
Philipp, setz den Waisen auf und befiehl ihnen zurückzutreten.

Ich sach mit mînen ougen

 

Ich sach mit mînen ougen
man und wîbe tougen,
dâ ich gehôrte und gesach,
swaz iemen tet, swaz ieman sprach.
Ze Rôme hôrte ich liegen
und zwêne künege triegen.
Dâ von huop sich der meiste strît,
der ê wart oder iemer sît,
dô sich begunden zweien
pfaffen unde leien.
Dâ was ein nôt vor aller nôt:
lîp unde sêle lac dâ tôt.
Die pfaffen striten sêre,
doch wart der leien mêre.
Diu swert, diu leiten si dernider;
si griffen zuo der stôle wider:
si bienen, die si wolten,
und niht den si solten.
Dô stôrte man diu goteshûs.
Dô hôrte ich verre in einer klûs
vil michel ungebære:
dâ weinte ein klôsenære,
er klagete gote sîniu leit:
„Ôwê, der bâbest ist ze junc: hilf, herre, dîner kristenheit.“

Ich sah mit meinen Augen

(Kirchenklage)

Ich sah mit meinen eigenen Augen
heimlich (unsichtbar) alle Männer und Frauen,
so dass ich alles hören und sehen konnte,
was irgendjemand tat oder sprach.
In Rom hörte ich, wie man log
und zwei Könige betrog.
Daher erhob sich der größte Streit,
den es je gegeben hat,
als sich Kleriker und Laien entzweiten.
Das war ein Unglück, größer als alle anderen,
denn in diesem Kampf verlor man Leib und Seele gleichzeitig.
Die Kleriker kämpften heftig,
doch wurden die Laien immer mehr.
Da legten sie die Schwerter nieder
und griffen wieder zur Stola.
Sie bannten die, die sie wollten,
und nicht den, den sie hätten bannen sollen.
Da (zer-?)störte man die Gotteshäuser.
Ich hörte in einer entlegenen Klause
arges Gejammer:
dort weinte ein Klausner,
der klagte Gott sein Leid:
„O weh, der Papst ist zu jung, hilf, Herr, deiner Christenheit.“